In Berlin ist der Frauentag neuerdings ein Feiertag. Warum?
Sollen wir gefeiert werden, damit wir nicht böse sind?
Das kenne ich, so war es in der DDR. Einmal im Jahr kochten die männlichen Kollegen den Kaffee, und von der Gewerkschaft bekamen wir kleine Plasteblumen zum Anstecken. Wollte ich mir zur Selbstfeier in einem der schlecht bestückten Blumenläden drei bunte Freesien kaufen, musste ich eine braune Frauenschuhorchidee dazu nehmen. Die wurden bei uns selber gemacht. Das Wort der männlichen Kollegen wurde an 364 Tagen im Jahr trotzdem anderes bewertet als unseres. Und am 365. auch.
Gestern, am Equal Pay Day, legte die Supermarktkassiererin mir eine Rose aufs Förderband. Sie rutschte zwischen Papiertaschentücher, Zeitung und Joghurtglas. Die kleine rosa Rose sah so müde aus wie die Kassiererin. Sie sagte nichts, die Kassiererin, außer: “Payback-Karte?” Ich antwortete: “Nein, danke.” Während ich die Einkäufe einräumte, legte die Kassiererin bereits der nächsten Kundin eine Rose hin.
Die Rose war das Voraus-Payback für den 8. März, den Frauentag.
Routinierter Handgriff ohne Hinsehen in ein unsichtbares Fach unter der Kasse. Wir bekamen die Rosen wie einen Rabatt. Die Stacheln am Stiel waren noch dran, und während die rosa Blüte bereits welkte, waren sie fest und spitz. Ein zusätzlicher Handgriff, der Zeit kostete. Sie schaffte es, ohne dass die Kundschaft sich staute. Auch ohne dass sie sich an den Stacheln verletzte?
Der Kapitalismus ist so vital. Aus dem Frauentag saugt er Kraft und wandelt sie um in Absatz und Kundenbindung. Die Frau an der Kasse macht bei jeder Kundin einen Handgriff mehr. Und sie kriegt keinen einzigen Cent mehr.
In Berlin haben wir jetzt einen Frauen-Feiertag.
Der internationale Frauentag ist ein Tag, an dem wir feiern dürfen. Was gibt es zu feiern? Schaut in eure Biografien, Frauen! Was habt ihr geschafft? Was habt ihr aus dem gelernt, was ihr nicht geschafft habt? Aus dem, das euch verweigert oder genommen wurde? Wie hast du Selbstvertrauen gewonnen, Frau, die als Kind klein gemacht wurde, verletzt vielleicht, so oder so? Wie hast du Selbstvertrauen bewahrt, Frau, die es als Kind gewinnen konnte und dann doch in die erste Diskriminierungsfalle tappte, noch ganz vertrauensvoll, dass das Grundgesetz dir doch gleiche Rechte zusichert.
Was haben wir zu feiern, wenn wir auf unsere Biografien schauen? Was haben wir zu feiern, wenn wir auf unsere Schwestern, wenn wir nur einmal über den Tellerrand schauen?
Frauenrechte sind Menschenrechte. Darum geht es. Es geht um das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Es geht um reproduktive Rechte. Es geht um das Recht, unser Äußeres und unseren Lebensstil selbst zu bestimmen. Wir bestimmen, ob und was wir auf dem Kopf tragen oder eben nicht. Es geht um gleiches Geld für gleiche Arbeit, und es geht um das uneingeschränkte Recht auf Bildung und Beruf. Es geht darum, dass wir wählen und dass wir eine Wahl haben.
Das ist selbstverständlich.
Ist es das? Einmal in die persönliche Biografie geschaut, einmal Nachrichten gehört: Schon weißt du, dass es nicht selbstverständlich ist. Solange wir noch immer wieder sagen müssen, dass Frauenrechte Menschenrechte sind, solange ist es nicht selbstverständlich. Wartet nicht, dass eine andere, ein anderer es für euch sagt!
Wir haben noch immer sehr viel Grund, böse zu sein, für uns selbst und für unsere Schwestern.
Der Frauentag ist ein Kampftag. Frauenrechte sind Menschenrechte. Menschenrechte sind kein Werbegag, sie sind das, worauf wir nicht mehr warten wollen. Nicht für uns, nicht für andere. Wir warten nicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag. (Mantra und Zuversicht.)
Der Januar eilt dahin, nur noch ein, zwei Tage Januar, schon ist ein zwölftel Jahr herum. Mariä Lichtmess, am 2. Februar, endet die Weihnachtszeit, sagt jedenfalls die Kirche, von der es an dieser Stelle nichts weiter zu sagen gibt.
P.s Oma sagte in jedem Jahr: “Lichtmess muss mer bei Tach ess.” Denn zu Lichtmess ist es bereits eine Stunde länger hell. Lichtmess, sollen die Frauen früher gesagt haben, muss alle Wolle versponnen sein, denn es beginnen andere Arbeiten. Und das Handbuch des Aberglaubens, verlässliche Quelle für vieles, was Menschen früher sagten, taten, glaubten, zählt die Gewohnheiten auf, die in der Landwirtschaft zu Lichtmess geübt wurden: Lichtmess wurden die Hühner durch einen Reifen gefüttert, in Frankreich sogar mit Kuchen, damit sie viele Eier legten, und die Bienenstöcke wurden mit geweihten Kerzen umgangen, manchmal wurde an die Stöcke geklopft: Bienen, freut euch, es ist Lichtmess. Wer imkerte, durfte zu Lichtmess nicht verreisen, sagten die Leute, damit die Bienen nicht wegflögen. Lichtmess, sagten sie, muss das Brot mit Kümmel gebacken sein. Lichtmess: ein Lostag, an dem unser Geschick bestimmt wird. Lichtmess ist auch Imbolg, das irische Fest der Schafherden und der Fruchtbarkeit überhaupt. Lichtmess, sagten die Menschen, ist der Tag im Jahr, an dem alle Lichter im Haus einmal angezündet werden sollen. Lichtmess, so sagten alle, sei ein Tag, an dem vorauszusehen sei, wie die Ernte des Jahres ausfallen werde. Es gab viele Zeichen, und welches auf eine gute, auf eine schlechte Ernte deute, da sagten die einen so, die anderen so.
Zeitig vor Weihnachten fällt Reif auf die Dächer. In Berlin, wie so oft, kahle Fröste, Fenster beschlägt, Brillengläser tragen Eisblumen.
Die Nachrichten sind schlecht. Waren sie je gut? Einer sagt so, einer sagt so. (Fragen Sie sich selbst, ehrlich, Sie werden staunen.) Vor Weihnachten noch wird taun, was eben gefror.
Ausstellung und Release von Prolog – Heft für Zeichnung und Text
Liebe Neugierige,
seitdem P. vor wenigen Jahren zum ersten Mal die Zeitschrift Prolog – Heft für Zeichnung und Text in Händen hielt, liest und betrachtet P. diese überraschende, farbige und so klug wie lebendig gestaltete Zeitschrift sehr, sehr gern. Gramann trägt bisweilen auch etwas bei.
Zum Anlass der 25. Ausgabe haben Anton Schwarzbach und Dorit Trebeljahr, die das Heft herausgeben und dabei Schreibende und Zeichnende zueinander und ihre Arbeit in die Welt bringen, eine große Ausstellung mit Arbeiten von 20 Zeichnerinnen und Zeichnern gestaltet. P. hat die Ausstellung bereits gesehen und war bei dem Release der aktuellen Ausgabe dabei. Nein, wir beschreiben die Arbeiten jetzt nicht, nur soviel: So unterschiedlich die Handschriften sind, so gut passen die Arbeiten doch zueinander.
Deshalb sollten Sie selbst nachsehen, mit P.s warmer Empfehlung:
Am 10. Dezember, ab 19 Uhr gibt es in der Ausstellung eine Lesung von Prolog-Autorinnen und -Autoren, mit Künstler!nnentresen. Wer vorher, nachher und außerdem selber schauen und lesen mag: Prolog Nr. 25 detect 2022 ist in der Ausstellung erhältlich und natürlich bei der Redaktion. Schauen Sie selbst:
Poliander und Gramann, wir freuen uns aufs Wiedersehen und Wiederlesen, wünschen allseits einen schönen, lesefreundlichen und augenöffnenden Dezember und senden herzliche Grüße Ulrike Gramann
Koordinaten: Galerie Parterre. 52° 32′ 10” N, 13° 26′ 0” O. Prolog.
alle Frauen, ob sie nun in Erfurt leben, am 22. November grad in der Nähe sind oder gern in die Nähe kommen, sind sehr herzlich eingeladen in die Erfurter Brennessel:
Meetchens Hochzeit Lesung und Gespräch mit Ulrike Gramann
am 22. November 2022, 19 Uhr im Frauenzentrum Brennessel, Regierungsstr. 28, 99084 Erfurt
Voller Turbulenz und Tücke ist Meetchens Welt, seit sie Bertschis Gesicht in der Quelle sah. Sie weiß nicht, wie ihr geschieht: Die Leute im Dorf denken schlecht von ihr, der Vater sperrt sie ein, der Arzt nutzt sie aus. Aus Liebe wird Leid und aus dem Hochzeitsfest blutiger Kampf. Ein Mädchen wie Meetchen, wer steht ihr bei? Doch auch die Rächerinnen sind unterwegs. Eine alte Geschichte, erzählt auf neue Art, aus Frauensicht und in eigener, dichter Sprache. Im Buch enthalten sind auch die wunderbaren Zeichnungen von Gudrun Trendafilov.
“Meetchens Hochzeit” ist bei der Lesung erhältlich, im Buchhandel und direkt bei Poliander.
Die Lesung ist mit dem Tag gegen Gewalt an Frauen verbunden, dem 25. November. Das Frauenprojekt Brennessel, in dem ich mit großer Freude schon öfter gelesen habe, unterstützt Frauen, ein selbstbestimmtes und freies Leben zu leben.
Auf ein Wiedersehen freuen sich Poliander und Ulrike G.
bereits im letzten Jahr hat die Malerin Susanne Wolf-Kaschubowski P. und Gramann in ihr Atelier und ihre Galerie in Altrip eingeladen. Nun, ein Jahr später werden endlich, endlich die im letzten Spätherbst verschobenen Lesungen gehalten.
Sie sind, Ihr seid herzlich eingeladen!
Leuchtfeuer im Innern Lesung und Gespräch mit Ulrike Gramann
Leidenschaft, Zweifel und die Kraft der Erinnerung… Ulrike Gramann erzählt davon, was in uns strömen und brennen, standhalten und davonfliegen will, vom Hinausgehen, Zurückfinden und von andauernder Veränderung.
am 12. November 2022, 19.30 Uhr in der Galerie im Hof, Bezirksstr. 10, 67122 Altrip
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Der Quellgarten und andere Geschichten Lesung und Gespräch mit Ulrike Gramann
In einer Stadt, in einem Garten entsprang eine Quelle… So beginnen Märchen. Ulrike Gramann erzählt davon, wie Unvorhergesehenes, Seltsames und Wunderbares im Alltag erscheint. Alles kann sich verändern, verwandeln. Doch Obacht: Auch der Einbruch des Wunderbaren ist ein Einbruch. Auch wer den Zauber kennt, kann sich nicht zurücklehnen.
am 13. November, 11 Uhr, am gleichen Ort
Die Lesungen finden in der Herbstausstellung der Galerie statt, in der Ute Nick, Ralf Schebiella und Susanne Wolf-Kaschubowski selbst ihre Arbeiten zeigen.
P. begibt sich auf Spurensuche für den Literaturrat Thüringen
Im Frühling dieses Jahres erreichte P. die Anfrage, an einer Reihe des Literraturrats Thüringen teilzunehmen, die den Titel Von Heimat zu Heimat – eine literarische Spurensuche trägt. Jetzt werden die Beiträge von insgesamt 25 Autorinnen und Autoren auf der Website Literaturland Thüringen nach und nach veröffentlicht.
P. stieg ins Thema ein, mit großem Zweifel, ob Heimat überhaupt eine Kategorie wäre, mit der sie sich intensiver beschäftigen wollte. Manche von uns lehnen den Begriff gänzlich ab. Ist es schon Heimattümelei, überhaupt nur Heimat zu sagen? Auch P. benutzt das Wort selten.
Letztendlich beginnt P.s Text so:
Einmal, für kurze Zeit, lebte ich auch am Bodensee. Seit dem Jungneolithikum siedeln Menschen im Dunstkreis des Sees, eines riesigen Wärmespeichers, bestehend aus achtundvierzig Milliarden Kubikmetern Wasser. Seit fünftausend Jahren kultivieren sie Äpfel. Als die Römer die von Kelten bewohnte Region eroberten, brachten sie den Wein mit. Im frühen Mittelalter gründeten iroschottische und alamannische Mönche Klöster, bauten Gemüse an und schrieben neben lateinischen einige der frühesten deutschsprachigen Texte. Der ideal schöne architektonische Entwurf, den wir als St. Galler Klosterplan kennen, wurde auf der Insel Reichenau gezeichnet. Im Niederalemannisch der Leute erkannte ich berückt Wörter und Wendungen, von denen ich bis dahin nur aus der Sprachgeschichte wusste. Hinter jedem Hügel ein tausendjähriges Dorf. Der aufsteigende Nebel vom See verdeckt die nahen Alpengipfel…
Wenn auch der erste Blick einer Idylle galt, bald zeigten sich deutlichere, hässliche und schöne Spuren, die P. endlich mitten in den Sommer 2022 führten. Wie es also weitergeht, welche Landschaften aus Natur und Kultur, Kontakt und Einsamkeit, Vergangenheit und Gegenwart P. aus den Spuren las und warum die persönliche Suche stets auch politische Spuren ans Licht befördert, das lesen Sie hier:
PS: O nein, P. hat keinen Text über eine dahingegangene Heimat des Realsozialismus geschrieben, auch wenn ihr während der Arbeit eine bildhaft-leibhaftige Metapher begegnete, siehe Eintrag vom 21. Juli 2022. Aber wer sich selber fragt, schaue selber nach, auf den Abladeplätzen von Geschichte und Gegenwart.
Der Geschichte ist es einerlei, wo sie dir begegnet. Die Geschichte kennt nicht die Straße, die Hausnummer oder die Form des Gefäßes, in dem du sie vermutest, vielleicht erkennst. Selten begegnet Geschichte dir als eine vollständige Geschichte, öfter als Konglomerat, in Bruchstücken einer Sammlung, aufeinandergestapelt oder einfach zusammengeworfen.
Manchmal stellt dir wer die Geschichte zwischen die Bäume im Park, in dem du gehst, in eine Straße, die du betrittst, wenn du um die nächste Ecke gehst, unter die Autobahnbrücke oder vors Haus des Nachbarn, schräg gegenüber, weiter weg, an irgend einen Ort. Oder in deinen Kopf. Manchmal bedeutet die Aufschrift auf dem Gefäß etwas anderes als du vermutest. Manchmal fällt Regen drauf. Was unterm Deckel liegt, ist die Erinnerung.
Koordinaten: 52° 31′ N, 13° 24′ O. Mitten in der Stadt und am Abgrund der Zeit.
dies ist die herzliche Einladung zum Literaturfest Meißen, live, leibhaftig und in Farbe:
Das Herz vergraben für ein Beben // Im Wartehäuschen wurde ich Ohrenzeugin Carla Schwiegk und Ulrike Gramann lesen auf Einladung des Kunstvereins Meißen beim Literaturfest Meißen am 10. Juni 2022, 18 Uhr im Kunstverein Meißen, Burgstraße 2, 01662 Meißen
Alle Beteiligten freuen sich auf Ihr zahlreiches Erscheinen, auf Neugier, Meinung und Kritik. Mit den besten Grüßen poliander