Polianders Zeitreisen

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Lebensweisen: Herkunft und Aufenthalt

09.02.2024 · poliander

Kapitel 4: In der Anthroposphäre

Auch im Ruhrgebiet lebte ich einmal. Überrascht schaute ich auf hügelig grüne Landschaften, die mein Gefühl umso mehr bewegten, als in ihrem Hintergrund stets Industrieanlagen, Stadtteile, Fußballstadien zu sehen waren. Die tausendjährige Stiepeler Kirche am Rande von Bochum und den Tetraeder in Bottrop, der auf den Halden geschlossener Bergwerke ruht, bewahre ich in meinem Bildgedächtnis.

In tieferen Bewusstseinsschichten finde ich Sinneseindrücke, die mit Arbeit verbunden sind, mit der Wirtschaft. In Ostthüringen war das die Leiterproduktion, am Bodensee Wein- und Gartenbau. Meine Kindheit hindurch hörte ich Sägen kreischen. Als die Beerengründe des Holzlands zu verarmen begannen, ahnten wir, dass es mit der Fabrik zu tun hatte, wo Industriekeramik und Sintermetalle gefertigt wurden, es war die erste Fabrik, die ich von innen sah. Wie ein Schlag traf mich der unverkennbare Geruch nach Metallbearbeitung zwei Jahrzehnte später in Stuttgart-Untertürkheim, er war so stark, dass man ihn auch außerhalb des Werkes wahrnahm. Den Geruch der schwefelhaltigen Kohle dagegen, die in unseren Öfen brannte, erkannte überhaupt nur der Freund aus dem Westen, mir war er so vertraut, ich hielt ihn für einen naturgegebenen Begleiter von Herbst und Winter. Diese Eindrücke transportieren die Ambivalenz unserer Wirtschaftsweise, unserer Lebensweise.

Im Sommer 2022 hat die Trockenheit apokalyptische Ausnahme angenommen. Wir fühlen uns hilflos. Stur gießen wir ein paar Straßenbäume, deren Wurzeln unter dem verdorrten Gras vorm Haus stecken. Wo ist Heimat, wenn der Wald brennt? Er brennt überall. Er brennt in den Wäldern, die Städte umgeben, und er brennt da, wo es kaum Menschen gibt. Er brennt in Kraftwerken, in Fahrzeugmotoren, wir verbrennen die fossilen Wälder der Welt. Verantwortung brennt in unseren Entscheidungen über Verkehrsmittel, Lebensmittel, über unseren energiefordernden Medienkonsum. Alles, wer könnte das noch bestreiten, steht mit allem in Beziehung. Die Erde ist unsere Herkunft, unser einziger natürlicher Aufenthalt. Gaia ist kein ideologisches Konstrukt, sondern ein System hochspezialisierter Lebensräume, belebt von unzähligen Lebewesen. Und wir haben die Erde zur Anthroposphäre gemacht.

In diesem Augenblick, da ich das schreibe, fällt der erste nennenswerte Regen seit vielen Wochen. Ich möchte diesen Text so gern mit Zuversicht beenden.

Menschen verbanden Natur und Kultur, als sie den Garten erfanden. Gärten sind Metaphern und reales Ergebnis sinnstiftender Arbeit, sie sind das irdische Paradies. Die Erde braucht uns nicht. Wir brauchen die Erde unbedingt. Sie ist unsere Herkunft, unser Aufenthalt, unsere Heimat. Sehen wir Gaia als einen Garten, sind Wälder Zisternen und lebende Gendatenbanken. Zuversicht ist uns nicht von Geburt an gegeben. Zuversicht entsteht zeit unseres Aufenthalts auf Erden, indem wir versuchen, das Richtige zu tun. Nicht Heimat, Zuversicht ist die offene Frage.

Berlin, den 15. August 2022

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Nachsatz: Der nasse Berliner Winter 2023/24 widerlegt die Sorge aus dem Jahr 2022 nicht. Und zugleich wurde gestern, am 8. Februar 2024, gemeldet, dass die Erderwärmung erstmals über 12 Monate lang durchschnittlich mehr als 1,5 Grad betrug: Nach einer Mitteilung des EU-Klimadienst Copernicus lag die Durchschnittstemperatur in den Monaten von Februar 2023 bis Januar 2024, global gesehen,1,52 Grad über dem vorindustriellen Referenzwert (Quelle: tagesschau.de). Wer Ohren hat zu hören: Höre!

Koordinaten: Im Frühling 2022 bat der Thüringer Literaturrat Autorinnen und Autoren aus Thüringen, sich in einem Essay mit Wort, Begriff und Thema Heimat auseinanderzusetzen. Die Beiträge erschienen 2022 und 2023 in der Reihe von Heimat zu Heimat. Aus aktuellem Anlass veröffentlicht Poliander Gramanns Essay in vier Kapiteln noch einmal hier. Sie finden ihn im Zusammenhang mit den anderen ebenfalls dort.

Kapitel 1 * Kapitel 2 * Kapitel 3

Copyright © für diesen wie alle Texte auf www.poliander.de: Ulrike Gramann
Bild unten: Fenchel / Freiland. Bild: Ulrike Gramann

Begegnung · Buchstabenfracht