Kapitel 1: Im Erinnerungsraum
Einmal, für kurze Zeit, lebte ich auch am Bodensee. Seit dem Jungneolithikum siedeln Menschen im Dunstkreis des Sees, eines riesigen Wärmespeichers, bestehend aus achtundvierzig Milliarden Kubikmetern Wasser. Seit fünftausend Jahren kultivieren sie Äpfel. Als die Römer die von Kelten bewohnte Region eroberten, brachten sie den Wein mit. Im frühen Mittelalter gründeten iroschottische und alamannische Mönche Klöster, bauten Gemüse an und schrieben neben lateinischen einige der frühesten deutschsprachigen Texte. Der ideal schöne architektonische Entwurf, den wir als St. Galler Klosterplan kennen, wurde auf der Insel Reichenau gezeichnet. Im Niederalemannisch der Leute erkannte ich berückt Wörter und Wendungen, von denen ich bis dahin nur aus der Sprachgeschichte wusste. Hinter jedem Hügel ein tausendjähriges Dorf. Der aufsteigende Nebel vom See verdeckt die nahen Alpengipfel.
Man kann an vielen Orten leben. Am Bodensee begriff ich, wie stark Thüringen, wo ich aufwuchs, mein inneres Bild einer Landschaft geprägt hat: Hügel, Nebel, umgebende Berge, die das Thüringer Becken gegen scharfe Luft und harten Regen abschirmen und auch ohne großen See ein Klima erzeugen, in dem Pflanzen unterschiedlicher Klimazonen gedeihen. „Thüringen, Kreuzweg der Blumen“ heißt die Pflanzengeographie, die ich bei keinem Umzug mitzunehmen vergesse. Auch meine Vorliebe für die romanische Bauform geht auf jenes ostthüringische Dorf zurück, in dessen Mitte eine Kirche steht, nach der Reformation verfallen, im 19. Jahrhundert wieder aufgebaut, romanisch wie aus dem Lehrbuch.
Heimat, das steht im Wörterbuch, ist erstens der Ort der Herkunft, aus dem ein Mensch, ein Tier, eine Pflanze stammt. Zweitens ist Heimat der Ort, an dem etwas oder jemand heimisch ist, sich heimisch fühlt.
Heimat ist ein Wort, das mir wenig sagt. Ich verstehe auch so, was mich von Mädchenbeinen an geprägt hat.
Auf dem Waldweg stand der Vater und spielte Gott, in den Manteltaschen Schokoladentafeln, eine für jedes Kind. Hatte die Mutter mit der Nachbarin von nebenan gesprochen und trug sie deren breites Ostthüringisch ins Haus, urteilte er: „Hast du wieder mit der Schlampe gesprochen.“ Oh, ich wollte gern hochdeutsch sprechen, obwohl Sprache fremd machen konnte im Dorf. Auch Geheimnisse machten fremd. Meistens wurden sie beschwiegen, eigene, Geheimnisse von anderen, offene. Nur Tante Lisbeth, die Nachbarin von gegenüber, kritisierte den Vater einmal, als er, Stock in der Hand, dem Kind über den Hof nachgesetzt war. Ich liebte Lisbeth und schämte mich. Fürchterliche politische Geheimnisse ahnte ich im Erwachsenenspott über ein im NS zwangssterilisiertes Paar und darüber, dass nach Stadtroda komme, wer verrückt sei. Wie bösartig dieses Gerede war, begriff ich erst als Erwachsene. In der Psychiatrie der kleinen Stadt wurden im NS-Staat Menschen ermordet.
Denke ich an das Dorf, aus dem ich kam, denke ich das Wort Heimat nicht. Ich entschloss mich früh fortzugehen. Doch als ich begann, diesen Text zu schreiben, hatte ich den Ort unverzüglich im Sinn. Heimat: Grund, Abgrund, Alptraum, Tatbestand.
***
Koordinaten: Im Frühling 2022 bat der Thüringer Literaturrat Autorinnen und Autoren aus Thüringen, sich in einem Essay mit Wort, Begriff und Thema Heimat auseinanderzusetzen. Die Beiträge erschienen 2022 und 2023 in der Reihe von Heimat zu Heimat. Aus aktuellem Anlass veröffentlicht Poliander Gramanns Essay in vier Kapiteln noch einmal hier. Wenn Sie den kompletten Beitrag von Ulrike Gramann sofort lesen möchten, finden Sie ihn auf der Seite Literaturland Thüringen.
Kapitel 2 * Kapitel 3 * Kapitel 4
Copyright © für diesen wie alle Texte auf www.poliander.de: Ulrike Gramann
Bild unten: Bodensee, gesehen von einem Weinberg zwischen Hagnau und Meersburg.
Foto: Ulrike Gramann