Berlin, den 20. Juli 2024
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
lange haben wir nicht von einander gehört. Dabei hätte es einiges zu berichten gegeben, eine Reise ans Meer, ein deutsch-türkisches Kinderbuch, ein Film über die Malerin Maria Lassnig, eine Lesung in Bernburg an der Saale, wo man P. so freundlich und offen begegnete, dass es eine Freude war. Und auch Sie haben, ihr habt ganz sicher mehr erlebt als sich in wenigen Worten sagen ließe. Oh, P. und Gramann, wir läsen sehr gern von guten Neuigkeiten!
Doch schreiben möchten wir heute etwas anderes, von einem Roman, gelesen vor Jahren, und einer Theateraufführung aus dieser Spielzeit, soeben gesehen.
Also, was wir erzählen wollen:
1938 erschien in den USA der Briefroman Address unknown. Seine Autorin, Kathrine Kressmann, veröffentlichte ihn unter dem Namen Kressmann Taylor. Sie dachte, ein so politischer Roman, geschrieben von einer Frau, würde in der Literaturwelt nicht ernst genommen.
Sie irrte sich.
Der Roman, eine Novelle eher, in der deutschen Übersetzung gerade einmal 55 Seiten lang von Seite 7 bis Seite 62, wurde berühmt. Er erschien zuerst in der Zeitschrift Story, dann, 1939, als Buch. 1944 wurde er verfilmt. Im NS-Deutschland wurde das Buch sofort verboten. Als der Text in den 1990er Jahren wiederentdeckt wurde, hat man ihn in zahlreiche Sprachen übersetzt, in Frankreich wurde er zum Bestseller und in Deutschland immerhin bekannt. Warum auf dem deutschen Buchtitel auch heute nicht der volle Name Kathrine Kressmann Taylors steht, konnte P. nicht herausfinden.
Das Buch erzählt in ein paar Handvoll Briefen, datierend aus den Jahren 1932 bis 1934, die Geschichte der Freundschaft zwischen Martin Schulse und Max Eisenstein und davon, wie aus dieser Freundschaft Feindschaft wird.
Die Freunde betreiben bis Anfang der 1930er Jahre gemeinsam eine Kunstgalerie in San Francisco. 1932 kehrt Martin Schulse nach Deutschland zurück, Max Eisenstein bleibt und führt das Geschäft in den USA weiter. Zunächst bleiben sie Freunde und Geschäftspartner, und einträglich bleibt das Geschäft, für beide. Doch was Martin aus Deutschland schreibt, lässt den jüdischen Freund Max zunächst zweifeln, dann schaudern. Dann zerstört es ihre Freundschaft. Martin lebt in Deutschland mit Frau und Kindern in großem Wohlstand, macht erstaunlich schnell und erstaunlich gut Karriere. Die Geschwindigkeit, in der er nicht nur zu einem überzeugten Nazi wird, sondern auch die antisemitische Propaganda aufgreift und sie sogar seinem jüdischen Freund gegenüber verteidigt, erschüttert beim Lesen der konzentrierten, knappen Briefe. Ihre Freundschaft endet in politischem Bruch und persönlichem Verrat. Martin verweigert Max‘ Schwester Griselle, die doch einmal seine Geliebte war, die helfende Hand, Griselle wird ermordet.
Doch das schmale Buch ist auch die Geschichte einer Rache. Wie diese bewerkstelligt wird, erzählt P. hier nicht.
Das Kleine Theater am Berliner Südwestkorso hat die Geschichte jetzt inszeniert, mit sparsamen Mitteln und lediglich zwei Darstellern. Ihnen gelingt es, die Briefe zu einem Stück zu fügen, dem man gebannt und getroffen folgt. Und der kleine Saal ist voll, seit der Premiere meist ausverkauft, sodass man leicht mitbekommt, wer im Publikum das Buch nicht gelesen hat und zur Pause meint, die traurige Geschichte sei an ihrem Ende. Weit gefehlt!
Und am Ende ist gewiss: Kathrine Kressmann Taylor hat sehr früh ein ganz unwahrscheinlich hellsichtiges, klares und konzentriertes Buch geschrieben. Die Geschichte ist fein gesponnen und in kaum zu übertreffender Kürze auf den Punkt gebracht, sie ist reine Fiktion und kommt der historischen Wahrheit doch so nahe wie nur möglich. Dass und wie aktuell dieses Meisterstück ist, muss kaum extra betont werden. Aber es auslassen, das können wir, P. und Gramann, keinesfalls.
Liebe Leser, liebe Leserinnen,
in der nächsten Spielzeit wird das Stück wieder aufgenommen. Wer in der Stadt ist: Unbedingt hingehen! Und alle, die in der Stadt sind oder woanders: Unbedingt lesen!
Wir wünschen allen einen schönen Sommer, mit Sonnenlicht für den Körper und erhellender Lektüre für den Kopf, herzlich
Poliander und Gramann
Koordinaten: (Kathrine) Kressmann Taylor: Adressat unbekannt. Aus dem Amerikanischen von Dorothee Böhm. Hamburg: Atlantik Taschenbuch (Hoffmann und Campe) 2014. Kleines Theater: Empfänger unbekannt. Aktuelle Termine findet man hier.