Polianders Zeitreisen

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Wie wir zusammenkommen: Herkunft und Aufenthalt

06.02.2024 · poliander

Kapitel 3: Im Sprachraum

Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt, in der auch ich lebe, sprechen ‒ die Angaben schwanken ‒ vielleicht 103, vielleicht 120 verschiedene Muttersprachen. Die Anwesenheit der Sprecher und Sprecherinnen so vieler Sprachen gehört zur innersten Substanz unseres Gemeinwesens.

Wir kamen her, obwohl der Stadt vieles fehlt, was an anderen Städten gerühmt wird. Was es hier schon immer gab, ist vor allem: Sand. Statt eines berühmten, bedeutenden Stroms fließt ein schmaler, in Kanäle gepresster Fluss durch die Stadt, in schlimm trockenen Jahren rückwärts. Die alten Römer mit ihren technischen Errungenschaften, ihrer Dekadenz, Eleganz und ihrem Wein kamen nicht bis hierher. Den Leuten unserer Region wurde vor zweihundertfünfzig Jahren lediglich befohlen, Kartoffeln zu kultivieren, damit die Mägen der Hungrigen gefüllt würden. Heute ist die Stadt eine Dauerbaustelle, stets wird etwas abgerissen, etwas anderes gebaut, ihre Schönheiten versteckt sie hinter Baugerüsten und Planen.

Groß wurde die Stadt mit dem Aufstieg der Industrie und dank der Menschen, die hier Arbeit suchten, Wohnung, Brot. Viele Leben waren nichts als Mühe, viele Wohnungen elend, klein, ungesund. Die kamen, brachten ihre Sprachen mit. Sie schufen eine gemeinsame Sprache voller Lehnworte, ein Idiom, das mehr vom Mutterwitz lebt als von seinem Charme. Hier begriff ich, dass Dialekte, Regiolekte, lokale Färbungen und sogar behelfsmäßige, reduzierte Varianten von Hochsprachen nicht schlecht oder gut sind. Entfernt von meinem Herkunftsort begann ich sie alle zu schätzen, ihre Drastik, ihre Handgreiflichkeit, ihr Berührtsein und ihre Berührbarkeit. Erklären Menschen, einen Dialekt grundsätzlich nicht zu mögen, widerspreche ich stets. Es kommt doch auf den Inhalt des Gesagten an, aufs Zuhören, aufs Verstehen. Die unendlich sich erneuernden Möglichkeiten der Sprache erzeugen gerade kein Gefühl von Heimatlosigkeit, sondern sowohl Illusion als auch Realität eines Raums, der sich verändert, verwandelt.

Die Heimat des Schriftstellers sei die Sprache, habe ich gelesen. Dieses Diktum scheint verführerisch einleuchtend. Aber stimmt es auch? Sprache ist mein Werkzeug. Als Arbeiterin im Weinberg der Literatur gebrauche ich es jeden Tag. Sprache kann ein gutes Werkzeug sein, sinnreich geformt, gut gepflegt, scharf geschliffen, manchmal abgegriffen, öfter blank gerieben im Gebrauch, ein scharfes Rebmesser oder eine spitze Traubenschere, mit der sich faule Beeren ausschneiden lassen, ohne die Traube zu zerstören. Als Spracharbeiterin liebe ich jenen glasklaren Satz, der in einem Film Aki Kaurismäkis fiel: „The working class has no fatherland.“ Ich greife ihn aus dem Zusammenhang, weil er mir passt, um zu sagen: Sprache hat kein Daheim. Auf das Deutsche, die Sprache, die mir am besten vertraut ist, trifft das exemplarisch zu. Viele brachten etwas mit, Wörter, Strukturen, die verändert, verwandelt wurden, neu zueinander gefügt, in einem Prozess, der fortgeschrieben, weitergesprochen wird. Sprache bleibt unterwegs. Sie ist nicht statisch, nicht begrenzt, sondern beweglich. So entsteht das vielsprachige Klingen im muttersprachlichen Raum.

(wird fortgesetzt)

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Koordinaten: Im Frühling 2022 bat der Thüringer Literaturrat Autorinnen und Autoren aus Thüringen, sich in einem Essay mit Wort, Begriff und Thema Heimat auseinanderzusetzen. Die Beiträge erschienen 2022 und 2023 in der Reihe von Heimat zu Heimat. Aus aktuellem Anlass veröffentlicht Poliander Gramanns Essay in vier Kapiteln noch einmal hier. Wenn Sie den kompletten Beitrag von Ulrike Gramann sofort lesen möchten, finden Sie ihn auf der Seite Literaturland Thüringen.

Kapitel 1 * Kapitel 2 * Kapitel 4

Copyright © für diesen wie alle Texte auf www.poliander.de: Ulrike Gramann

Begegnung · Buchstabenfracht