Polianders Zeitreisen

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Warum Heimat? Herkunft und Aufenthalt

31.01.2024 · poliander

Kapitel 2: Im Kontaktraum

Wir lernten uns in der U-Bahn kennen, Zufall und auch keiner. Die Frau, die bald eine Freundin werden sollte, sprach mich an, als sie sah, wie ich aus einem Buch ihre Sprache lernte. Wir bildeten ein Tandem zu dritt, sie, ihr Gefährte und ich, wir trafen uns über zwei Jahre jede Woche, um in unseren Muttersprachen miteinander zu sprechen. Wir lernten uns kennen und redeten über den Alltag, über unsere Leben, Berufe, Meinungen. Ihre Sprache, die ich zuvor als grammatisches Wunder und syntaktisches Problem erlebt hatte, öffnete sich wie ein Gesicht, wie eine Welt.

Bisweilen warf eine Geste Licht auf unsere Vorgeschichten, wie in jenem Augenblick, als die Freundin mir eine Zeichnung ihres kleinen Sohnes zeigte. Zu sehen waren seine Schwester, Mutter und Vater, er selbst. Sonne schien, Blume und Baum fehlten nicht. Die rechte untere Ecke des Papierbogens weiß ich noch genau, klein wie ein Eselsohr, ein sorgsam blau ausgemaltes Dreieck. Es bedeutete das Meer. Am fernen Meer hatte die Familie gern gelebt, bevor sie den Ort auf einem gefahrvollen Weg verlassen musste. „Wir leben jetzt hier“, haben wir einander schon oft gesagt. Kein Zurück. Das verbindet. Aber ich, als ich das Land meiner Herkunft verließ, ging freiwillig. Bald darauf war das Land Geschichte. Andere retteten sich aus Staaten, vor Regimes, deren Ende nicht in Aussicht steht.

Eine politische Haltung zum Begriff Heimat finde ich in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, in deren Artikel 13 es heißt, erstens: „Jeder hat das Recht, sich innerhalb eines Staates frei zu bewegen und seinen Aufenthaltsort frei zu wählen“, und zweitens: „Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren.“ Um diese Rechte zu verwirklichen, benötigt man das Wort Heimat nicht. Aber positiv politisch bestimmt, bezeichnet es den Ort, an dem Artikel 13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gilt.

Eine nationale und ästhetische Überhöhung des Begriffs Heimat sehe ich als gefährlich an. Nein, gleichgültig sind Herkunft und Aufenthalt nicht. Sie sind relevant, im Guten wie im Bösen. Aber Heimat ist kein Wert an sich. Wer mit dem Wort eine nationale Alleinvertretung oder historische Territorien beansprucht, folgt einem aggressiven, rückwärtsgewandten Konzept. Die Akte Heimat darum mit dem Sperrvermerk „reaktionär“ zu versehen und zu schließen, ist trotzdem falsch, sogar frivol. Denn wer am selbstgewählten Ort lebt und, ausgestattet mit den Privilegien eines bundesdeutschen Passes, als freier Mensch kommt und geht, mag sich leicht von der Kategorie Heimat distanzieren. Doch was bedeutet Heimat für Menschen, die aus einem Krieg geflohen sind, vor politischem Terror, blanker Not? Wer will sie ausschließen, wenn sie das Wort gebrauchen? Menschen, die verloren haben, was sie Heimat nennen, Hab und Gut, womöglich ihre Nächsten und Liebsten, haben nicht bloß eine Denkfigur verloren, sondern den wirklichen Ort ihres Lebens. Diese Erfahrung ist existentiell.

(wird fortgesetzt)

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Koordinaten: Im Frühling 2022 bat der Thüringer Literaturrat Autorinnen und Autoren aus Thüringen, sich in einem Essay mit Wort, Begriff und Thema Heimat auseinanderzusetzen. Die Beiträge erschienen 2022 und 2023 in der Reihe von Heimat zu Heimat. Aus aktuellem Anlass veröffentlicht Poliander Gramanns Essay in vier Kapiteln noch einmal hier. Wenn Sie den kompletten Beitrag von Ulrike Gramann sofort lesen möchten, finden Sie ihn auf der Seite Literaturland Thüringen.

Kapitel 1 * Kapitel 3 * Kapitel 4

Copyright © für diesen wie alle Texte auf www.poliander.de: Ulrike Gramann

Begegnung · Buchstabenfracht