Polianders Zeitreisen

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Lange, leise, leseweise

21.12.2023 · poliander

Auch als das Jahr noch lang war, begann es schon kurz zu werden. Je kürzer es wird, ward! ruft P. dazwischen, desto runder wird es auch.

Leselampen an! für die langen stillen Nächte, in denen Buchstaben laufen lernen und dem kommenden Jahr vorauseilen. Wir füllen die Gläser von damals mit dem fast neuen Wein aus dem Pfälzer Kästchen. Es ist ja nicht wahr, dass Wein nicht hilft, und besserer Wein, das ist wahr, hilft auch besser.

Aus einem Buch, das P. geerbt hat, vor zehn Jahren fällt ein Zettel, Datum 13. Februar 1981, Notiz aus lieber Hand und von seltener politischer Klarheit. P. schiebt den Zettel zurück ins Buch. Wir finden ihn, zufälliger Zufall, immer im rechten Augenblick, in dem wir uns erinnern: Der Geist ist stärker als die Zeit.

Wolln wir am Jahresende räsonieren? Hat das nicht A. Schmidt ein für allemal getan, nämlich als er schrieb, die Welt der Kunst und Fantasie sei die wahre, the rest is a nightmare. P. kritisiert Gramann, Zitat für Zitat könnten wir uns durchhangeln bis zur Zuversicht, der geliebten, und das ohne einen einzigen eigenen Gedanken. Na und!, ruft Gramann. Was, rufen?, sollten es nicht leise Nächte werden? Also lieber was tun, in den Kleiderschrank schauen, die alten Stiefel rausziehen und die Kampfsportpfötchen, alles noch brauchbar und sei’s als Metapher. Aber laufen müssen wir auch, die Leselampe bleibt an derweil, und je mehr Niederschläge vom Himmel fallen, desto leerer ist’s im Park, das ist es doch, was unsere Stadt so anziehend macht: Ganz allein sind wir nie, aber die soziale Kontrolle versinkt zeitweis und -weilig aufs Minimum. (Naja!, ruft P., in unserer kleinen krummen Straße? Ach was, antwortet Gramann, die gefällt uns doch.)

Und dann wieder unter der Leselampe bleiben, sie auch mal wegdrehen, wenn wir uns zum Fenster wenden. Ja, auch tagsüber brauchen wir die Lampe jetzt, wo die zwölf Nächte vorüberziehen, wo die Percht erscheint, ob wir sie sehen oder nicht, wo die Träume irgend etwas vorbedeuten. Oder, wie P. sagt, wo das geschieht, was das ganze Jahr geschieht: Die Bussarde schreien im Vorbeiflug und schweigen, wenn sie oben im Baum sitzen, beieinander, aber nicht auf dem selben Ast. O Liebe.

Das kriegen wir nicht rund, das Ding, Polianders Herumreiserei in der Zeit und in der Jahreszeit. P. wendet sich mal hier, mal dorthin. Das einzig Verbindende zwischen Tun und Nichtstun am Ende dieses Jahres bleibt das Trinken, also so und so, buchstäblich und auch wieder nicht, wir trinken Wein, wir trinken Text, und auch das nicht ohne Voraussetzung, also vorausgesetzt, weder der eine noch der andere laufen P. davon.

Wir zählen die Verluste, wir zählen die Gewinne, wir greifen das durch Arbeit Geschenkte, das kam alles vor, auch dieses Jahr.

Es (es, das Jahr) geht zu Ende, und es ist Zeit für eine Weihnachtsgeschichte. Wir verweisen hier, denn erzählen wäre zu viel gesagt, verweisen also auf die Vorgeschichte der Weihnachtsgeschichte. Denn alle Weihnachten wie alle anderen heiligen Nächte haben eine Vorgeschichte. Die Vorweihnachtsgeschichte erzählt von einer klugen jungen Frau. Sie war die Tochter Annas, die, längst nicht mehr jung, Maria zur Welt brachte. Früh unterwies sie ihre Tochter im Lesen.

Anna voll Andacht zu ihrem Mädchen, dem beherzten, einer Leserin schon als Kind und mit dem Buch in der Hand beim Ausgang in die Welt, im Vorwissen des Schönen und Schrecklichen, und das war nie nur eine Metapher.*

(Und hier, in diesem Bild, das göttinseidank nicht ständig entstaubt wird, ist es Anne, wie überall in der Bretagne eine Mischung aus der heiligen und der historischen Anne, Göttin und Königin, und anne, auch das muss gesagt werden, ist das Wort für Mutter in einer Sprache, die P. und Gramann, weit entfernt davon, sie zu beherrschen, doch sehr lieben.)

Welt voller Verweise. Ob’s noch rund wird, das Jahr, wer weiß. Von diesem Eintrag ganz zu schweigen. Aber auch was eiert, kann rollen. So endet der Eintrag auf die einzig angemessene Art, mit guten Wünschen für die, die ihn lesen:

Allen Leserinnen und Lesern schöne und erhellende Stunden, laut und leise, mit Büchern, mit Traubensaft und Wein, allein und mit Menschen! P. und Gramann wünschen Euch und Ihnen den Duft, der aus gut gefüllten Gläsern aufsteigt, freundliches Licht und eine Lektüre, die das Herz weit macht und den Horizont öffnet. Fröhliche Weihnachten und ein glückliches neues Jahr!

Koordinaten: Wintersonnenwende. Zwölf Nächte. Siehe, da erschien der Engel des Herrn dem Josef im Traum und sprach: Die Weihnachtsgeschichte, gesungen nach der Musik von Heinrich Schütz.

* … gleich, ob die Wendung auch von selbstbezogen und whiskyglasbewehrt in ihren Sesseln sitzenden Dramatikern verwendet wurde.

Schönste Stellen
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