Polianders Zeitreisen

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Lichtlein

30.11.2023 · poliander

Um 11:28 Uhr geht der Mond heute unter, auf um 18:02 Uhr. Abnehmender Mond, seit ein paar Tagen. Der November 2023 verschwindet in der Vergangenheit. Morgen beginnt der letzte Monat des Jahres, der letzte Neumond am 13. War mal Pioniergeburtstag, wissen Sie noch?, wenn nicht, können Sie es getrost vergessen. Man kann das nachlesen wie die Zeiten des Mondes, nur: Den Mond sehen wir. Das Jahr geht dahin, ein Lichtlein will brennen.

Der hundertjährige Henry Kissinger ist gestorben, sagen die Nachrichten, der Kommentator spricht von Bedeutung, so und so, in dieser Richtung und jener. P. denkt an den Kalten Krieg dabei, an diese Angst, in der wir es uns gemütlich gemacht hatten. Die neuen Ängste sind unbequemer, passen nicht recht, zwicken und kneifen. Doch dafür sind sie da. Das wärmste Jahr seit Menschengedenken und weit darüber hinaus, und Kraftfahrzeuge werden zugelassen, als gäb’s kein Morgen, und tatsächlich: Wer weiß, ob es eins gibt. Für das Universum – noch lange, für unsere Spezies?

Der Advent will beginnen, die Zeit der Zuversicht. Liebes Wort. Im September liefen wir vors Haus, vor diese spröde Villa am oberen Wandelgang, in der die gebohnten Treppen knackten, wenn der Wind an den Mauern riss. Je später der Abend, desto dunkler die Insel, Sterne strahlten, die Milchstraße, von der wir in der Stadt kaum je eine zarte Spur erkennen. Und jene Nacht, in der ein unbekanntes Leuchten das Zimmer erfüllte, rot und orange stand der Himmel vor dem Fenster, ein leuchtend beunruhigendes Feuer. Aber es war kein Feuer da, keine Feuerwehr sirente. Solche Helligkeit. Später begriffen wir, dass das ein Nordlicht war, das Staunen blieb und die Beunruhigung.

Es ist ein Schnee gefallen, früher nannten wir ihn den ersten, und wir wussten, dass ein zweiter kommt. P. geht in ein Café von übergestern, wo P. dreißig Jahre nicht mehr war, das schenkte P. die Dichterin, mit der P. sich dort traf. Tisch und Stühle warn die gleichen, nur manche hatten zerbrochene Lehnen, ein Ort im alten West-Berlin, an dem die Zeit stillsteht. Beinahe wäre P. vorbeigelaufen im glitschigen Matsch aus Wasser und Schnee, auf dem vielbegangenen Fußweg an der vielbefahrenen Straße. Manche Leute tragen ihre Masken vom vergangenen Jahr. So ist’s auch im Mythos, der wahre Eingang zeigt sich nicht jedem, und man muss scharf hinschauen und einer Bestimmung folgen. Plakate an den Wänden hingen wie vor Zeiten, nur brauner heute, braun von altem Rauch, und wird schon lang nicht mehr geraucht in den Lokalen. Später vergaß P., die Dichterin zu fragen, ob es, als sie nach Berlin kam, die Buchhandlung Kiepert noch gab, jenes zweigeschossige, riesige Geschäft, in dem jedes Buch der Edition Suhrkamp zu haben war, all diese Farben in einem Regal, und unten am Regal jene Kästen, die, aufgezogen, den Nachschub präsentierten. Müßig zu erwähnen, was heute an jenem Ort verkauft wird, und ja, es gibt ein sicher verdienstvolles ein Nachfolgeunternehmen, nur nicht hier. Diesen Platz meidet P. ohnehin, seit es die Buchhandlung nicht mehr gibt, in der es ALLES gab, nicht: alles bestellt werden konnte, das schon auch, doch meistens nicht nötig, denn alles war da. Und wenn es Schnee regnete im Winter, am frühen Abend, leuchteten die Fenster. Empfindlichkeiten.

Warum so melancholisch heute, P.? Sonst doch so frech. P. schweigt. Wir haben einen Adventskranz gekauft, ohne Schmuck und ohne Kerzen. Und ob wir welche aufstecken werden, wir wissen es noch nicht. Sicher ist nur, dass in der Zeit, die zwischen den Jahren steht, der Mond wird voll werden. Ach, Sonne, ach Tageslicht.

Koordinaten: Mondauf- und -untergang. 52° 31′ N, 13° 24′ O
Soundtrack: Gaude Virgo (Guillaume Dufay)

Augenweide