Polianders Zeitreisen

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Ein neues Jahr / Was sie sagte

30.01.2023 · poliander

Der Januar eilt dahin, nur noch ein, zwei Tage Januar, schon ist ein zwölftel Jahr herum. Mariä Lichtmess, am 2. Februar, endet die Weihnachtszeit, sagt jedenfalls die Kirche, von der es an dieser Stelle nichts weiter zu sagen gibt.

P.s Oma sagte in jedem Jahr: “Lichtmess muss mer bei Tach ess.” Denn zu Lichtmess ist es bereits eine Stunde länger hell. Lichtmess, sollen die Frauen früher gesagt haben, muss alle Wolle versponnen sein, denn es beginnen andere Arbeiten. Und das Handbuch des Aberglaubens, verlässliche Quelle für vieles, was Menschen früher sagten, taten, glaubten, zählt die Gewohnheiten auf, die in der Landwirtschaft zu Lichtmess geübt wurden: Lichtmess wurden die Hühner durch einen Reifen gefüttert, in Frankreich sogar mit Kuchen, damit sie viele Eier legten, und die Bienenstöcke wurden mit geweihten Kerzen umgangen, manchmal wurde an die Stöcke geklopft: Bienen, freut euch, es ist Lichtmess. Wer imkerte, durfte zu Lichtmess nicht verreisen, sagten die Leute, damit die Bienen nicht wegflögen. Lichtmess, sagten sie, muss das Brot mit Kümmel gebacken sein. Lichtmess: ein Lostag, an dem unser Geschick bestimmt wird. Lichtmess ist auch Imbolg, das irische Fest der Schafherden und der Fruchtbarkeit überhaupt. Lichtmess, sagten die Menschen, ist der Tag im Jahr, an dem alle Lichter im Haus einmal angezündet werden sollen. Lichtmess, so sagten alle, sei ein Tag, an dem vorauszusehen sei, wie die Ernte des Jahres ausfallen werde. Es gab viele Zeichen, und welches auf eine gute, auf eine schlechte Ernte deute, da sagten die einen so, die anderen so.

P. wie Gramann sagen: Lichtmess ist der schönste Tag des Jahres. Lichtmess blicken wir voraus auf diese fast gewitterhaften Februartage, an denen Schnee, Regen und Sonne wechseln und das Licht selbst am bewölkten Himmel schon auf den Frühling weist. Die Rückkehr des Lichts bedeutet die Rückkehr des Lebens, das klingt schlicht, aber alle sagen es, die wissen, dass es nur ein Leben gibt, mal so, mal so, in dieser und in einer anderen Form.

Was ich doch sage! Was sie alle sagen, was die Frauen sagen, und was sie, sie und sie sagte.

P. liebt lange Einleitungen, Gramann sieht es ein.

Der erste Film im neuen Jahr: SHE SAID von Maria Schrader, gesehen gemeinsam mit Freundinnen.

Die Geschichte des Films ist schnell erzählt, Sie, Leserinnen und Leser, haben auch davon gehört: Zwei Journalistinnen der New York Times recherchieren über Übergriffe und Gewalttaten eines mächtigen Mannes. Sie telefonieren, sie sprechen mit Frauen, auch einigen Männern. Sie fragen nach, sie finden Menschen, die Informationen geben, sie kommen weiter von einer zur nächsten Person, die etwas sagen kann, vielleicht will. Am Ende veröffentlicht das Medium, für das sie arbeiten, den Artikel. Und die physische, psychische Gewalt des Mächtigen, nicht einmal seine massive wirtschaftliche Gewalt kann es verhindern. Nach der Publikation sprechen zahlreiche andere Frauen, öffentlich, auch unter ihrem Namen.

Poliander: 129 Minuten, in keiner davon habe ich mich gelangweilt, in jeder wünschte ich, dass die Arbeit der Journalistinnen zur Veröffentlichung führen würden.
Gramann: Dabei wussten wir schon, dass es gelingen würde.
P.: SHE SAID ist kein Dokumentarfilm, obwohl es um Tatsachen geht.
G.: Ich habe noch nie in einem Film so oft den Satz “I was terrified“, gehört.
P.: Der Film nimmt ja auch die Perspektive der Frauen ein.
G.: Der Film wirbt nie um Verständnis für den Täter.
P.: Das wäre ja auch noch schöner!
G.: … geschieht aber trotzdem ständig. Und dass die Taten selbst nicht gezeigt wurden, war sehr wirkungsvoll.
P.: Niemand konnte sich an Bildern gütlich tun.
G. Und ohnehin wissen alle, was geschieht, wenn sie die Indizien sehen – die Tasche, die ausgekippt auf dem Tisch im Hotelzimmer liegt, die Trennscheibe zur Dusche, während das Wasser läuft. Wir wissen Bescheid. Denn die Erfahrung von Gewalt ist für viele Frauen (für nicht wenige Menschen überhaupt) die entscheidende Erfahrung, die ihren Lebensweg prägt.
P.: Aber was uns prägt, sollte besser zuerst die Erfahrung von Freiheit sein, die Unverletzlichkeit des Körpers und der Person, die Freiheit des Wortes.
G.: Miteinander zu sprechen, frei zu sagen, was wir erlebt und erfahren haben.
P.: Das ist auch keine Frauenfrage.
G.: Es ist eine Demokratiefrage.

Einen Film sehen: mit Freundinnen. Das ist wie Gedanken teilen, Erfahrungen teilen, Brot teilen, auch so wichtig, so substantiell, so grundlegend. Einen Film sehen mit Freundinnen ist auch ein Weg, und dann gehen wir noch den Weg vom Kino zurück, wir gehen und sprechen miteinander unterwegs. Und dass es so einen Film gibt, ist ein Zeichen der Demokratie. Und nicht zuletzt versteht man dabei noch einmal neu, warum gute, fundierte Berichterstattung so wichtig ist, warum Zeitungen Geld kosten, was manchmal vergessen wird: weil es Arbeit ist, Beweise zu sammeln, Belege zu finden, Behauptungen nachzuprüfen, weil diese Arbeit existenzsichernd auch für die Arbeiterinnen des Wortes sein muss… weil die Freiheit des Wortes unsere freie Existenz sichert.

Wir sahen noch einen anderen Film in den ersten Tagen dieses Jahres, diesmal gemeinsam mit dem Gefährten: The Super 8 Years, Dokumente, Fragmente des privaten Lebens von Annie Ernaux, kommentiert von ihr selbst, ein kleiner Film, der ein Licht auf Ernaux’ Leben wirft. Wir hörten ihre Stimme, die die Bilder kommentierte. Ihren Text zu lesen, selbst den übersetzten Text, hat seitdem auch ihre Stimme. Es ist ein Vergnügen. Und man versteht auf neue Weise, warum biografisches Schreiben auch politisch ist.

Liebe Leserinnen, liebe Leser,
gehen Sie hin. Gehn Sie ins Kino! Warten Sie nicht, bis ein Film “im Fernsehen kommt”, wer weiß, ob er dahin kommt. Und im Kino ist es viel schöner. Sprechen Sie mit Ihren Freundinnen und Freunden, nehmen Sie sie mit. “Lichtmess muss mer bei Tach ess” – tun Sie’s gemeinsam. Teilen Sie ein Brot. Teilen Sie einen Film. Teilen Sie miteinander eine Erfahrung. Hellen Sie den Tag auf und das Jahr.
Herzlich
Poliander und Gramann

Koordinaten 1: Bundesplatz-Kino (Lieblingskino). SHE SAID: Trailer (original) und Trailer (deutsche Fassung). The Super 8 Years

Koordinaten 2: Lichtmess, nur noch ein Brot weit entfernt, ein Brot, dessen Teig von einer Frau, Verbündeten und Freundin mit P. und Gramann geteilt wurde.

Augenweide · Begegnung
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