Polianders Zeitreisen

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Wir warten nicht

08.03.2023 · poliander

In Berlin ist der Frauentag neuerdings ein Feiertag. Warum?

Sollen wir gefeiert werden, damit wir nicht böse sind?

Das kenne ich, so war es in der DDR. Einmal im Jahr kochten die männlichen Kollegen den Kaffee, und von der Gewerkschaft bekamen wir kleine Plasteblumen zum Anstecken. Wollte ich mir zur Selbstfeier in einem der schlecht bestückten Blumenläden drei bunte Freesien kaufen, musste ich eine braune Frauenschuhorchidee dazu nehmen. Die wurden bei uns selber gemacht. Das Wort der männlichen Kollegen wurde an 364 Tagen im Jahr trotzdem anderes bewertet als unseres. Und am 365. auch.

Gestern, am 7. März 2023 war der Equal Pay Day.

Gestern, am Equal Pay Day, legte die Supermarktkassiererin mir eine Rose aufs Förderband. Sie rutschte zwischen Papiertaschentücher, Zeitung und Joghurtglas. Die kleine rosa Rose sah so müde aus wie die Kassiererin. Sie sagte nichts, die Kassiererin, außer: „Payback-Karte?“ Ich antwortete: „Nein, danke.“ Während ich die Einkäufe einräumte, legte die Kassiererin bereits der nächsten Kundin eine Rose hin.

Die Rose war das Voraus-Payback für den 8. März, den Frauentag.

Routinierter Handgriff ohne Hinsehen in ein unsichtbares Fach unter der Kasse. Wir bekamen die Rosen wie einen Rabatt. Die Stacheln am Stiel waren noch dran, und während die rosa Blüte bereits welkte, waren sie fest und spitz. Ein zusätzlicher Handgriff, der Zeit kostete. Sie schaffte es, ohne dass die Kundschaft sich staute. Auch ohne dass sie sich an den Stacheln verletzte?

Der Kapitalismus ist so vital. Aus dem Frauentag saugt er Kraft und wandelt sie um in Absatz und Kundenbindung. Die Frau an der Kasse macht bei jeder Kundin einen Handgriff mehr. Und sie kriegt keinen einzigen Cent mehr.

In Berlin haben wir jetzt einen Frauen-Feiertag.

Der internationale Frauentag ist ein Tag, an dem wir feiern dürfen. Was gibt es zu feiern? Schaut in eure Biografien, Frauen! Was habt ihr geschafft? Was habt ihr aus dem gelernt, was ihr nicht geschafft habt? Aus dem, das euch verweigert oder genommen wurde? Wie hast du Selbstvertrauen gewonnen, Frau, die als Kind klein gemacht wurde, verletzt vielleicht, so oder so? Wie hast du Selbstvertrauen bewahrt, Frau, die es als Kind gewinnen konnte und dann doch in die erste Diskriminierungsfalle tappte, noch ganz vertrauensvoll, dass das Grundgesetz dir doch gleiche Rechte zusichert.

Was haben wir zu feiern, wenn wir auf unsere Biografien schauen? Was haben wir zu feiern, wenn wir auf unsere Schwestern, wenn wir nur einmal über den Tellerrand schauen?

Frauenrechte sind Menschenrechte. Darum geht es. Es geht um das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Es geht um reproduktive Rechte. Es geht um das Recht, unser Äußeres und unseren Lebensstil selbst zu bestimmen. Wir bestimmen, ob und was wir auf dem Kopf tragen oder eben nicht. Es geht um gleiches Geld für gleiche Arbeit, und es geht um das uneingeschränkte Recht auf Bildung und Beruf. Es geht darum, dass wir wählen und dass wir eine Wahl haben.

Das ist selbstverständlich.

Ist es das? Einmal in die persönliche Biografie geschaut, einmal Nachrichten gehört: Schon weißt du, dass es nicht selbstverständlich ist. Solange wir noch immer wieder sagen müssen, dass Frauenrechte Menschenrechte sind, solange ist es nicht selbstverständlich. Wartet nicht, dass eine andere, ein anderer es für euch sagt!

Wir haben noch immer sehr viel Grund, böse zu sein, für uns selbst und für unsere Schwestern.

Der Frauentag ist ein Kampftag. Frauenrechte sind Menschenrechte. Menschenrechte sind kein Werbegag, sie sind das, worauf wir nicht mehr warten wollen. Nicht für uns, nicht für andere. Wir warten nicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag. (Mantra und Zuversicht.)

Wir haben viel Grund, solidarisch zu sein.

Und dann: Rosen auf den Weg.

Auf dem Rosenweg
Auf dem Rosenweg

Koordinaten: 8. März, Suffragetten, Bread and Roses

Reisebrief
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