Polianders Zeitreisen

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Am Ende des Sommers

29.09.2024 · poliander

P. beendete die Zeit der Nächte, die bei 32 °C begannen und an deren Ende schon wieder die Schwüle regierte, indem sie die Stadt verließ. Am Tag der Abreise, hörte P. später, begann es zu regnen.

Oh, und es regnete auch, als P. und der Gefährte die Fähre bestiegen. Es war die große, die Autofähre (für Insiderinnen: Wer zu Fuß kommt, muss nicht vorbuchen). Das leichtere Schiff, das, das den Adler im Namen trägt, das, von dem aus man schon unterwegs die Seehunde sieht, ging nicht. Denn der Wellenschlag war so stark, dass es wohl abgehoben wäre. Die großen Wellen also schlugen gegen den Unterboden der Fähre: Wumm! Wumm!

Ja, und es regnete, als der Gefährte und P. die Fähre verließen und ihre Rucksäcke zur Villa buckelten, ja, zur der, von der man den weiten Blick hat: bei Hochwasser 2 km Sand bis zum Spülsaum, bei Niedrigwasser sogar 3. Ein Zimmer zur Miete mit Blick vom Küchentisch hinaus übern Strand. Aber da sitzen blieben sie nicht. Zum Strand gingen sie auch bei Regen, dahin, wo das erste Glas Wein der Reise wartet, jedes Mal wieder. Am Morgen strahlte ein Regenbogen, der einen Fuß im Watt stecken hatte, den anderen im Sand. Riesig stand er über der Insel und rahmte sie mit seinen Füßen.

Doppelt schien er auch, doch dieses Phänomen ist keins zum Fotografieren. Ein Regenbogen existiert und ist zugleich ein Symbol des Göttlichen, das Herz und Hirn erfüllt. Fortan, wie immer, wenn man durchnässt und in Böen eintrifft, bot die kleine Insel alles an Sonne, Wind und Wolkenspiel auf, was das Herz begehrte. Und ah!, ein Frösteln. P. begrüßte die halb vergessene Empfindung erfreut.

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

was braucht es der Worte mehr? Geschwommen sind sie auch in den herrlichen Wellen.

Und gegangen, kilometerweite Wege durch den weichen, weißen Sand, wo sie das Glück des Nordens wiederentdeckten, den Wind und das Alleinsein mit dem Geräusch der Wellen. Menschen waren da auch, oh ja, doch noch viel mehr Vögel, zu Hunderten saßen sie im Watt und begrüßten jede Ebbe aus ihrem Innersten, von dort, wo die Liebe hindurchgeht, vom Magen her. Denn die Reise der Knutts, der Stare und Gänse, sie wird erst beginnen, wenn sie sich vollgegessen haben, dort im Watt, an all den kleinen und kleinsten Lebewesen, die das zurückweichende Wasser freigibt in Schlick und Sand. So geschieht es jeden Herbst. “Weil das Leben schön ist”, kreischten die Möwen. Und P. kaufte ein Shirt mit den Koordinaten der Insel. P. und der Gefährte gingen und gingen und fühlten die Ribbel unter den Sohlen und den Muskelkater in den Hüften. Ah.

Wo aber fanden sie das Haar in der Suppe, den Haken am Kniep?

Zum ersten Mal, seit P. und der Gefährte dorthin kommen, war die Insel der Vögel auch eine Insel der Mücken, der kleinen Gnitzen, und der gewöhnlichen, der fetten Stechmücken. Sie schwärmten aus, tags und nachts. Und an den Tagen, an denen der Wind nachließ, die Wellen ein wenig versandeten, erschien ein Teppich aus Braunalgen und machte den Einstieg zum Schwimmen unangenehm und schlüpfrig. So waren sie zwar der heißen Stadt entflohen, nicht aber der Klimakrise, denn Mücken und Algen sind die Zeichen des viel zu warmen Sommers, der in diesem Jahr auch dort herrschte, am nördlichen Meer. Und so atmete diese Reise die Moral der Geschicht und den Anspruch der Geschichte, die Einsicht im Wellenschlag: Es hilft nur, das Leben zu ändern, das eigene. Leser und Leserin, Sie wissen, was wir meinen: Die Fußabdrücke vom Gehen sind so groß wie die Füße. Und die CO2-Fußabdrücke, sie dürfen nicht mehr größer werden, sondern müssen schrumpfen. Nichts anderes hilft, und jeder fasse sich dabei an die eigene Nase, die von der Sonne verbrannte.

Zurück in der Stadt, die Kastanien haben all ihre Blätter schon verloren. Auch das, Sie wissen schon. Doch endlich auch hier ist es nun kühl, ein Septemberende fast wie damals, vor der Krise.

Am Tag nach der Rückkehr laufen Tausende durch die Stadt. Berlin-Marathon: die reinste Freude von allen für alle. Wer laufen mag, kann dabei sein, und auch wer schauen mag, ist willkommen. Und alle jubeln den Läufern zu und Läuferinnen. Kein Neid, kein Spott, nur Freude über alle anderen, die Laufenden und Schauenden. P. steht und schaut und freut sich wie jedes Jahr. Mein Lieblingsfest in der Stadt! Das reinste Vergnügen.

Und nun: wirklich Herbst.

Koordinaten: 54° 39′ 6” N, 8° 20′ 11” O

Noch eins?

Schönste Stellen
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Kommt in den Garten

01.08.2024 · poliander

Was gibt es Schöneres als im Sommer im Garten zu sein und im Schatten dieses alten Baumes, des knorrigen, von dessen Zweigen die ersten Kornäpfel hängen – oh, wie sie duften! – also im Schatten, durch den bewegte Lichter spielen, zu sitzen und zu lesen?

Antwort?

Keine?

Oh, aber doch beinah genauso schön ist es, womöglich schöner, in diesem Garten hinter der Buchhandlung, im Sommer und am frühen Abend, wenn das Licht gerade noch durch die Zweige und die Blätter scheint, ausruhen und lesen hören. Und das wird bald sein.

Kommt in den Garten! Wir laden herzlich ein:

Katrin Heinau und Ulrike Gramann
im LeseGarten der Buchhandlung Lesezeichen

Katrin Heinau liest aus Tante Hilde in Gelb oder Alle sind verdächtig
Ulrike Gramann liest aus Die Unberechenbarkeit des Lebens
und Musik macht Cornelia Vraceanu
am 16. August 2024, um 19.30 Uhr
in der Buchhandlung Lesezeichen
Prießnitzstr. 56, 01099 Dresden

Bei Regenwetter an einem trockenen Ort.

Wir freuen uns auf ein Wiedersehen und grüßen herzlich und sommerlich
Poliander und Gramann

Koordinaten: 51° 3′ 3” N, 13° 45′ 10” O, Buchhandlung Lesezeichen

Bis dahin: Jede Woche ein Gedicht (Gramann: Nacht, Blitze in rascher Folge)

Weinraute, unbekannter Ort.
Foto: Gramann

Buchstabenfracht
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Spielzeit endet, Spielzeit beginnt

20.07.2024 · poliander

Berlin, den 20. Juli 2024

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

lange haben wir nicht von einander gehört. Dabei hätte es einiges zu berichten gegeben, eine Reise ans Meer, ein deutsch-türkisches Kinderbuch, ein Film über die Malerin Maria Lassnig, eine Lesung in Bernburg an der Saale, wo man P. so freundlich und offen begegnete, dass es eine Freude war. Und auch Sie haben, ihr habt ganz sicher mehr erlebt als sich in wenigen Worten sagen ließe. Oh, P. und Gramann, wir läsen sehr gern von guten Neuigkeiten!

Doch schreiben möchten wir heute etwas anderes, von einem Roman, gelesen vor Jahren, und einer Theateraufführung aus dieser Spielzeit, soeben gesehen.

Also, was wir erzählen wollen:

1938 erschien in den USA der Briefroman Address unknown. Seine Autorin, Kathrine Kressmann, veröffentlichte ihn unter dem Namen Kressmann Taylor. Sie dachte, ein so politischer Roman, geschrieben von einer Frau, würde in der Literaturwelt nicht ernst genommen.

Sie irrte sich.

Der Roman, eine Novelle eher, in der deutschen Übersetzung gerade einmal 55 Seiten lang von Seite 7 bis Seite 62, wurde berühmt. Er erschien zuerst in der Zeitschrift Story, dann, 1939, als Buch. 1944 wurde er verfilmt. Im NS-Deutschland wurde das Buch sofort verboten. Als der Text in den 1990er Jahren wiederentdeckt wurde, hat man ihn in zahlreiche Sprachen übersetzt, in Frankreich wurde er zum Bestseller und in Deutschland immerhin bekannt. Warum auf dem deutschen Buchtitel auch heute nicht der volle Name Kathrine Kressmann Taylors steht, konnte P. nicht herausfinden.

Das Buch erzählt in ein paar Handvoll Briefen, datierend aus den Jahren 1932 bis 1934, die Geschichte der Freundschaft zwischen Martin Schulse und Max Eisenstein und davon, wie aus dieser Freundschaft Feindschaft wird.

Die Freunde betreiben bis Anfang der 1930er Jahre gemeinsam eine Kunstgalerie in San Francisco. 1932 kehrt Martin Schulse nach Deutschland zurück, Max Eisenstein bleibt und führt das Geschäft in den USA weiter. Zunächst bleiben sie Freunde und Geschäftspartner, und einträglich bleibt das Geschäft, für beide. Doch was Martin aus Deutschland schreibt, lässt den jüdischen Freund Max zunächst zweifeln, dann schaudern. Dann zerstört es ihre Freundschaft. Martin lebt in Deutschland mit Frau und Kindern in großem Wohlstand, macht erstaunlich schnell und erstaunlich gut Karriere. Die Geschwindigkeit, in der er nicht nur zu einem überzeugten Nazi wird, sondern auch die antisemitische Propaganda aufgreift und sie sogar seinem jüdischen Freund gegenüber verteidigt, erschüttert beim Lesen der konzentrierten, knappen Briefe. Ihre Freundschaft endet in politischem Bruch und persönlichem Verrat. Martin verweigert Max’ Schwester Griselle, die doch einmal seine Geliebte war, die helfende Hand, Griselle wird ermordet.

Doch das schmale Buch ist auch die Geschichte einer Rache. Wie diese bewerkstelligt wird, erzählt P. hier nicht.

Das Kleine Theater am Berliner Südwestkorso hat die Geschichte jetzt inszeniert, mit sparsamen Mitteln und lediglich zwei Darstellern. Ihnen gelingt es, die Briefe zu einem Stück zu fügen, dem man gebannt und getroffen folgt. Und der kleine Saal ist voll, seit der Premiere meist ausverkauft, sodass man leicht mitbekommt, wer im Publikum das Buch nicht gelesen hat und zur Pause meint, die traurige Geschichte sei an ihrem Ende. Weit gefehlt!

Und am Ende ist gewiss: Kathrine Kressmann Taylor hat sehr früh ein ganz unwahrscheinlich hellsichtiges, klares und konzentriertes Buch geschrieben. Die Geschichte ist fein gesponnen und in kaum zu übertreffender Kürze auf den Punkt gebracht, sie ist reine Fiktion und kommt der historischen Wahrheit doch so nahe wie nur möglich. Dass und wie aktuell dieses Meisterstück ist, muss kaum extra betont werden. Aber es auslassen, das können wir, P. und Gramann, keinesfalls.

Liebe Leser, liebe Leserinnen,

in der nächsten Spielzeit wird das Stück wieder aufgenommen. Wer in der Stadt ist: Unbedingt hingehen! Und alle, die in der Stadt sind oder woanders: Unbedingt lesen!

Wir wünschen allen einen schönen Sommer, mit Sonnenlicht für den Körper und erhellender Lektüre für den Kopf, herzlich
Poliander und Gramann

Koordinaten: (Kathrine) Kressmann Taylor: Adressat unbekannt. Aus dem Amerikanischen von Dorothee Böhm. Hamburg: Atlantik Taschenbuch (Hoffmann und Campe) 2014. Kleines Theater: Empfänger unbekannt. Aktuelle Termine findet man hier.

Begegnung · Reisebrief

Über Regen schreiben

26.03.2024 · poliander

Regen bringt Segen. P. wuchs auf dem Dorf auf und lernte von Kindesbeinen, dass es ohne Regen nicht geht.

An diesem Wandertag zum Beispiel hatte P. die nass quatschenden Schuhe längst ausgezogen und trug sie in der Hand während der Annäherung ans Herkunftsdorf. Das Ziel der Schritte war der schmale Weg aus Sandsteinplatten, die zum Haus führten, rechts und links glänzten nass die Kieselsteine, weiß und orange gefleckt, im Ohr hatte P. das Platschen der Füße im nassen Wanderweglehm auf dem Grund der Pfützen. Dann dieses körnige Gefühl unter den Sohlen vom Dorfstraßenasphalt. Und so weiter. Die Erwachsenen im Haus begrüßten das Gewitter, denn Wasser war kostbar, und sei’s weil es getragen werden musste. Auch P. hat oft Gießkannen getragen, zum Gemüse hin und manchmal den Blumen, doch stets ging das Essbare vor.

In der Stadt, wo P. jetzt wohnt, ist Regen für viele zuerst ein Ärgernis, “schlechtes Wetter”. Doch auch diese Leute wollen im Sommer gern unter Kastanien und Linden sitzen, nach der Arbeit, beim Wein.

Für andere ist Regen längst ein Politikum. Seit das Klima sich verändert – seit Jahrzehnten, und ebenfalls nicht erst seit gestern wissen wir von den Grenzen des Wachstums – also seit das Klima sich krisenhaft verändert, ist das Wetter tatsächlich politisch geworden. Regen bringt Segen, und wer’s nicht wüsste, muss nur ins Land Brandenburg schauen, wo die Wälder in beinahe jedem Sommer brennen. Der Rauch ist bis tief ins Herz der Stadt zu spüren, er reizt die Lungen der Stadt und der Menschen, die sie bewohnen, und mit jedem heißen Sommer wächst die Sorge, an der Klimakrise zu ersticken.

Auch darum schrieb der Berliner Verband der Schriftstellerinnen und Schriftsteller im letzten Sommer den REGEN als Thema für den herbstlichen Lesemarathon aus. Gefragt waren kurze Beiträge, lyrische, erzählende, außer dem Thema war alles freigestellt. Zusätzliche Brisanz erhielt das Literaturprojekt durch den Vorschlag, die eigene Arbeit mit einem Text zu ergänzen, der durch ein “KI”-Programm generiert werden sollte. Einige taten das auch, und es zeitigte erwartbare Ergebnisse, die gleichwohl ein Argument in der Diskussion um die Möglichkeiten, Grenzen und Risiken von artificial intelligence sein können.

Aus den Einsendungen wurde nicht nur ein kurzweiliger langer Leseabend, sondern auch eine Anthologie, die jetzt im Hirnkost Verlag Berlin erschienen ist. Regen-Texte enthält sie viele, dazu einige Prompts für ein KI-Programm und Ergebnisse der KI-gestützten Texterstellung. (Hier passt’s mal, das schlimme Wort “Erstellung”.)

Aber sehen Sie selbst:

Was P. noch mitteilt:
1. Ulrike Gramann ist mit “Regen und Zorn”, einem lyrischen Text in der Anthologie vertreten.
2. Einen Prompt für das KI-Programm hat sie nicht geschrieben und demzufolge auch keinen künstlichen Text von ChatGPT generieren lassen.

Und: Es ist ein schönes Buch entstanden, mit farbigen Seiten, die zwischen die Beiträge gebunden sind, Lesebändchen und einem Umschlag, der gut in der Hand liegt. Über die Texte, die Inhalte, die Form rät P., bilden Sie sich selbst eine Meinung. Lesen!

Koordinaten: Regen in Zeiten der Klimakrise oder Kann ChatGPT Literatur? Herausgegeben vom VS Berlin. Konzipiert, zusammengestellt und bearbeitet von Martina Wildner, Edith Ottschofski und Henning Kreitel. Hirnkost Verlag Berlin 2024.

Buchstabenfracht
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Hier ist er, und er ist eine Sie

08.03.2024 · poliander

Er, der Frühling. Sie, die Hummel.
Elegant hat sie ein Bein unter den Körper gezogen und bewegt sich in der warmen Sonne, sie, das feministische Tier: dick, kann fliegen, bringt den Frühling.

Liebe Frauen, wir machen weiter!

Koordinaten: 8. März.

Augenweide
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Wo ist er?

23.02.2024 · poliander

Koordinaten: der Frühling. 52° 27′ 29” N, 13° 17′ 15” O.

Augenweide

Lebensweisen: Herkunft und Aufenthalt

09.02.2024 · poliander

Kapitel 4: In der Anthroposphäre

Auch im Ruhrgebiet lebte ich einmal. Überrascht schaute ich auf hügelig grüne Landschaften, die mein Gefühl umso mehr bewegten, als in ihrem Hintergrund stets Industrieanlagen, Stadtteile, Fußballstadien zu sehen waren. Die tausendjährige Stiepeler Kirche am Rande von Bochum und den Tetraeder in Bottrop, der auf den Halden geschlossener Bergwerke ruht, bewahre ich in meinem Bildgedächtnis.

In tieferen Bewusstseinsschichten finde ich Sinneseindrücke, die mit Arbeit verbunden sind, mit der Wirtschaft. In Ostthüringen war das die Leiterproduktion, am Bodensee Wein- und Gartenbau. Meine Kindheit hindurch hörte ich Sägen kreischen. Als die Beerengründe des Holzlands zu verarmen begannen, ahnten wir, dass es mit der Fabrik zu tun hatte, wo Industriekeramik und Sintermetalle gefertigt wurden, es war die erste Fabrik, die ich von innen sah. Wie ein Schlag traf mich der unverkennbare Geruch nach Metallbearbeitung zwei Jahrzehnte später in Stuttgart-Untertürkheim, er war so stark, dass man ihn auch außerhalb des Werkes wahrnahm. Den Geruch der schwefelhaltigen Kohle dagegen, die in unseren Öfen brannte, erkannte überhaupt nur der Freund aus dem Westen, mir war er so vertraut, ich hielt ihn für einen naturgegebenen Begleiter von Herbst und Winter. Diese Eindrücke transportieren die Ambivalenz unserer Wirtschaftsweise, unserer Lebensweise.

Im Sommer 2022 hat die Trockenheit apokalyptische Ausnahme angenommen. Wir fühlen uns hilflos. Stur gießen wir ein paar Straßenbäume, deren Wurzeln unter dem verdorrten Gras vorm Haus stecken. Wo ist Heimat, wenn der Wald brennt? Er brennt überall. Er brennt in den Wäldern, die Städte umgeben, und er brennt da, wo es kaum Menschen gibt. Er brennt in Kraftwerken, in Fahrzeugmotoren, wir verbrennen die fossilen Wälder der Welt. Verantwortung brennt in unseren Entscheidungen über Verkehrsmittel, Lebensmittel, über unseren energiefordernden Medienkonsum. Alles, wer könnte das noch bestreiten, steht mit allem in Beziehung. Die Erde ist unsere Herkunft, unser einziger natürlicher Aufenthalt. Gaia ist kein ideologisches Konstrukt, sondern ein System hochspezialisierter Lebensräume, belebt von unzähligen Lebewesen. Und wir haben die Erde zur Anthroposphäre gemacht.

In diesem Augenblick, da ich das schreibe, fällt der erste nennenswerte Regen seit vielen Wochen. Ich möchte diesen Text so gern mit Zuversicht beenden.

Menschen verbanden Natur und Kultur, als sie den Garten erfanden. Gärten sind Metaphern und reales Ergebnis sinnstiftender Arbeit, sie sind das irdische Paradies. Die Erde braucht uns nicht. Wir brauchen die Erde unbedingt. Sie ist unsere Herkunft, unser Aufenthalt, unsere Heimat. Sehen wir Gaia als einen Garten, sind Wälder Zisternen und lebende Gendatenbanken. Zuversicht ist uns nicht von Geburt an gegeben. Zuversicht entsteht zeit unseres Aufenthalts auf Erden, indem wir versuchen, das Richtige zu tun. Nicht Heimat, Zuversicht ist die offene Frage.

Berlin, den 15. August 2022

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Nachsatz: Der nasse Berliner Winter 2023/24 widerlegt die Sorge aus dem Jahr 2022 nicht. Und zugleich wurde gestern, am 8. Februar 2024, gemeldet, dass die Erderwärmung erstmals über 12 Monate lang durchschnittlich mehr als 1,5 Grad betrug: Nach einer Mitteilung des EU-Klimadienst Copernicus lag die Durchschnittstemperatur in den Monaten von Februar 2023 bis Januar 2024, global gesehen,1,52 Grad über dem vorindustriellen Referenzwert (Quelle: tagesschau.de). Wer Ohren hat zu hören: Höre!

Koordinaten: Im Frühling 2022 bat der Thüringer Literaturrat Autorinnen und Autoren aus Thüringen, sich in einem Essay mit Wort, Begriff und Thema Heimat auseinanderzusetzen. Die Beiträge erschienen 2022 und 2023 in der Reihe von Heimat zu Heimat. Aus aktuellem Anlass veröffentlicht Poliander Gramanns Essay in vier Kapiteln noch einmal hier. Sie finden ihn im Zusammenhang mit den anderen ebenfalls dort.

Kapitel 1 * Kapitel 2 * Kapitel 3

Copyright © für diesen wie alle Texte auf www.poliander.de: Ulrike Gramann
Bild unten: Fenchel / Freiland. Bild: Ulrike Gramann

Begegnung · Buchstabenfracht

Wie wir zusammenkommen: Herkunft und Aufenthalt

06.02.2024 · poliander

Kapitel 3: Im Sprachraum

Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt, in der auch ich lebe, sprechen ‒ die Angaben schwanken ‒ vielleicht 103, vielleicht 120 verschiedene Muttersprachen. Die Anwesenheit der Sprecher und Sprecherinnen so vieler Sprachen gehört zur innersten Substanz unseres Gemeinwesens.

Wir kamen her, obwohl der Stadt vieles fehlt, was an anderen Städten gerühmt wird. Was es hier schon immer gab, ist vor allem: Sand. Statt eines berühmten, bedeutenden Stroms fließt ein schmaler, in Kanäle gepresster Fluss durch die Stadt, in schlimm trockenen Jahren rückwärts. Die alten Römer mit ihren technischen Errungenschaften, ihrer Dekadenz, Eleganz und ihrem Wein kamen nicht bis hierher. Den Leuten unserer Region wurde vor zweihundertfünfzig Jahren lediglich befohlen, Kartoffeln zu kultivieren, damit die Mägen der Hungrigen gefüllt würden. Heute ist die Stadt eine Dauerbaustelle, stets wird etwas abgerissen, etwas anderes gebaut, ihre Schönheiten versteckt sie hinter Baugerüsten und Planen.

Groß wurde die Stadt mit dem Aufstieg der Industrie und dank der Menschen, die hier Arbeit suchten, Wohnung, Brot. Viele Leben waren nichts als Mühe, viele Wohnungen elend, klein, ungesund. Die kamen, brachten ihre Sprachen mit. Sie schufen eine gemeinsame Sprache voller Lehnworte, ein Idiom, das mehr vom Mutterwitz lebt als von seinem Charme. Hier begriff ich, dass Dialekte, Regiolekte, lokale Färbungen und sogar behelfsmäßige, reduzierte Varianten von Hochsprachen nicht schlecht oder gut sind. Entfernt von meinem Herkunftsort begann ich sie alle zu schätzen, ihre Drastik, ihre Handgreiflichkeit, ihr Berührtsein und ihre Berührbarkeit. Erklären Menschen, einen Dialekt grundsätzlich nicht zu mögen, widerspreche ich stets. Es kommt doch auf den Inhalt des Gesagten an, aufs Zuhören, aufs Verstehen. Die unendlich sich erneuernden Möglichkeiten der Sprache erzeugen gerade kein Gefühl von Heimatlosigkeit, sondern sowohl Illusion als auch Realität eines Raums, der sich verändert, verwandelt.

Die Heimat des Schriftstellers sei die Sprache, habe ich gelesen. Dieses Diktum scheint verführerisch einleuchtend. Aber stimmt es auch? Sprache ist mein Werkzeug. Als Arbeiterin im Weinberg der Literatur gebrauche ich es jeden Tag. Sprache kann ein gutes Werkzeug sein, sinnreich geformt, gut gepflegt, scharf geschliffen, manchmal abgegriffen, öfter blank gerieben im Gebrauch, ein scharfes Rebmesser oder eine spitze Traubenschere, mit der sich faule Beeren ausschneiden lassen, ohne die Traube zu zerstören. Als Spracharbeiterin liebe ich jenen glasklaren Satz, der in einem Film Aki Kaurismäkis fiel: „The working class has no fatherland.“ Ich greife ihn aus dem Zusammenhang, weil er mir passt, um zu sagen: Sprache hat kein Daheim. Auf das Deutsche, die Sprache, die mir am besten vertraut ist, trifft das exemplarisch zu. Viele brachten etwas mit, Wörter, Strukturen, die verändert, verwandelt wurden, neu zueinander gefügt, in einem Prozess, der fortgeschrieben, weitergesprochen wird. Sprache bleibt unterwegs. Sie ist nicht statisch, nicht begrenzt, sondern beweglich. So entsteht das vielsprachige Klingen im muttersprachlichen Raum.

(wird fortgesetzt)

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Koordinaten: Im Frühling 2022 bat der Thüringer Literaturrat Autorinnen und Autoren aus Thüringen, sich in einem Essay mit Wort, Begriff und Thema Heimat auseinanderzusetzen. Die Beiträge erschienen 2022 und 2023 in der Reihe von Heimat zu Heimat. Aus aktuellem Anlass veröffentlicht Poliander Gramanns Essay in vier Kapiteln noch einmal hier. Wenn Sie den kompletten Beitrag von Ulrike Gramann sofort lesen möchten, finden Sie ihn auf der Seite Literaturland Thüringen.

Kapitel 1 * Kapitel 2 * Kapitel 4

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Begegnung · Buchstabenfracht

Warum Heimat? Herkunft und Aufenthalt

31.01.2024 · poliander

Kapitel 2: Im Kontaktraum

Wir lernten uns in der U-Bahn kennen, Zufall und auch keiner. Die Frau, die bald eine Freundin werden sollte, sprach mich an, als sie sah, wie ich aus einem Buch ihre Sprache lernte. Wir bildeten ein Tandem zu dritt, sie, ihr Gefährte und ich, wir trafen uns über zwei Jahre jede Woche, um in unseren Muttersprachen miteinander zu sprechen. Wir lernten uns kennen und redeten über den Alltag, über unsere Leben, Berufe, Meinungen. Ihre Sprache, die ich zuvor als grammatisches Wunder und syntaktisches Problem erlebt hatte, öffnete sich wie ein Gesicht, wie eine Welt.

Bisweilen warf eine Geste Licht auf unsere Vorgeschichten, wie in jenem Augenblick, als die Freundin mir eine Zeichnung ihres kleinen Sohnes zeigte. Zu sehen waren seine Schwester, Mutter und Vater, er selbst. Sonne schien, Blume und Baum fehlten nicht. Die rechte untere Ecke des Papierbogens weiß ich noch genau, klein wie ein Eselsohr, ein sorgsam blau ausgemaltes Dreieck. Es bedeutete das Meer. Am fernen Meer hatte die Familie gern gelebt, bevor sie den Ort auf einem gefahrvollen Weg verlassen musste. „Wir leben jetzt hier“, haben wir einander schon oft gesagt. Kein Zurück. Das verbindet. Aber ich, als ich das Land meiner Herkunft verließ, ging freiwillig. Bald darauf war das Land Geschichte. Andere retteten sich aus Staaten, vor Regimes, deren Ende nicht in Aussicht steht.

Eine politische Haltung zum Begriff Heimat finde ich in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, in deren Artikel 13 es heißt, erstens: „Jeder hat das Recht, sich innerhalb eines Staates frei zu bewegen und seinen Aufenthaltsort frei zu wählen“, und zweitens: „Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren.“ Um diese Rechte zu verwirklichen, benötigt man das Wort Heimat nicht. Aber positiv politisch bestimmt, bezeichnet es den Ort, an dem Artikel 13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gilt.

Eine nationale und ästhetische Überhöhung des Begriffs Heimat sehe ich als gefährlich an. Nein, gleichgültig sind Herkunft und Aufenthalt nicht. Sie sind relevant, im Guten wie im Bösen. Aber Heimat ist kein Wert an sich. Wer mit dem Wort eine nationale Alleinvertretung oder historische Territorien beansprucht, folgt einem aggressiven, rückwärtsgewandten Konzept. Die Akte Heimat darum mit dem Sperrvermerk „reaktionär“ zu versehen und zu schließen, ist trotzdem falsch, sogar frivol. Denn wer am selbstgewählten Ort lebt und, ausgestattet mit den Privilegien eines bundesdeutschen Passes, als freier Mensch kommt und geht, mag sich leicht von der Kategorie Heimat distanzieren. Doch was bedeutet Heimat für Menschen, die aus einem Krieg geflohen sind, vor politischem Terror, blanker Not? Wer will sie ausschließen, wenn sie das Wort gebrauchen? Menschen, die verloren haben, was sie Heimat nennen, Hab und Gut, womöglich ihre Nächsten und Liebsten, haben nicht bloß eine Denkfigur verloren, sondern den wirklichen Ort ihres Lebens. Diese Erfahrung ist existentiell.

(wird fortgesetzt)

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Koordinaten: Im Frühling 2022 bat der Thüringer Literaturrat Autorinnen und Autoren aus Thüringen, sich in einem Essay mit Wort, Begriff und Thema Heimat auseinanderzusetzen. Die Beiträge erschienen 2022 und 2023 in der Reihe von Heimat zu Heimat. Aus aktuellem Anlass veröffentlicht Poliander Gramanns Essay in vier Kapiteln noch einmal hier. Wenn Sie den kompletten Beitrag von Ulrike Gramann sofort lesen möchten, finden Sie ihn auf der Seite Literaturland Thüringen.

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In Sachen Heimat: Herkunft und Aufenthalt

26.01.2024 · poliander

Kapitel 1: Im Erinnerungsraum

Einmal, für kurze Zeit, lebte ich auch am Bodensee. Seit dem Jungneolithikum siedeln Menschen im Dunstkreis des Sees, eines riesigen Wärmespeichers, bestehend aus achtundvierzig Milliarden Kubikmetern Wasser. Seit fünftausend Jahren kultivieren sie Äpfel. Als die Römer die von Kelten bewohnte Region eroberten, brachten sie den Wein mit. Im frühen Mittelalter gründeten iroschottische und alamannische Mönche Klöster, bauten Gemüse an und schrieben neben lateinischen einige der frühesten deutschsprachigen Texte. Der ideal schöne architektonische Entwurf, den wir als St. Galler Klosterplan kennen, wurde auf der Insel Reichenau gezeichnet. Im Niederalemannisch der Leute erkannte ich berückt Wörter und Wendungen, von denen ich bis dahin nur aus der Sprachgeschichte wusste. Hinter jedem Hügel ein tausendjähriges Dorf. Der aufsteigende Nebel vom See verdeckt die nahen Alpengipfel.

Man kann an vielen Orten leben. Am Bodensee begriff ich, wie stark Thüringen, wo ich aufwuchs, mein inneres Bild einer Landschaft geprägt hat: Hügel, Nebel, umgebende Berge, die das Thüringer Becken gegen scharfe Luft und harten Regen abschirmen und auch ohne großen See ein Klima erzeugen, in dem Pflanzen unterschiedlicher Klimazonen gedeihen. „Thüringen, Kreuzweg der Blumen“ heißt die Pflanzengeographie, die ich bei keinem Umzug mitzunehmen vergesse. Auch meine Vorliebe für die romanische Bauform geht auf jenes ostthüringische Dorf zurück, in dessen Mitte eine Kirche steht, nach der Reformation verfallen, im 19. Jahrhundert wieder aufgebaut, romanisch wie aus dem Lehrbuch.
Heimat, das steht im Wörterbuch, ist erstens der Ort der Herkunft, aus dem ein Mensch, ein Tier, eine Pflanze stammt. Zweitens ist Heimat der Ort, an dem etwas oder jemand heimisch ist, sich heimisch fühlt.

Heimat ist ein Wort, das mir wenig sagt. Ich verstehe auch so, was mich von Mädchenbeinen an geprägt hat.

Auf dem Waldweg stand der Vater und spielte Gott, in den Manteltaschen Schokoladentafeln, eine für jedes Kind. Hatte die Mutter mit der Nachbarin von nebenan gesprochen und trug sie deren breites Ostthüringisch ins Haus, urteilte er: „Hast du wieder mit der Schlampe gesprochen.“ Oh, ich wollte gern hochdeutsch sprechen, obwohl Sprache fremd machen konnte im Dorf. Auch Geheimnisse machten fremd. Meistens wurden sie beschwiegen, eigene, Geheimnisse von anderen, offene. Nur Tante Lisbeth, die Nachbarin von gegenüber, kritisierte den Vater einmal, als er, Stock in der Hand, dem Kind über den Hof nachgesetzt war. Ich liebte Lisbeth und schämte mich. Fürchterliche politische Geheimnisse ahnte ich im Erwachsenenspott über ein im NS zwangssterilisiertes Paar und darüber, dass nach Stadtroda komme, wer verrückt sei. Wie bösartig dieses Gerede war, begriff ich erst als Erwachsene. In der Psychiatrie der kleinen Stadt wurden im NS-Staat Menschen ermordet.

Denke ich an das Dorf, aus dem ich kam, denke ich das Wort Heimat nicht. Ich entschloss mich früh fortzugehen. Doch als ich begann, diesen Text zu schreiben, hatte ich den Ort unverzüglich im Sinn. Heimat: Grund, Abgrund, Alptraum, Tatbestand.

(wird fortgesetzt)

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Koordinaten: Im Frühling 2022 bat der Thüringer Literaturrat Autorinnen und Autoren aus Thüringen, sich in einem Essay mit Wort, Begriff und Thema Heimat auseinanderzusetzen. Die Beiträge erschienen 2022 und 2023 in der Reihe von Heimat zu Heimat. Aus aktuellem Anlass veröffentlicht Poliander Gramanns Essay in vier Kapiteln noch einmal hier. Wenn Sie den kompletten Beitrag von Ulrike Gramann sofort lesen möchten, finden Sie ihn auf der Seite Literaturland Thüringen.

Kapitel 2 * Kapitel 3 * Kapitel 4

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Bild unten: Bodensee, gesehen von einem Weinberg zwischen Hagnau und Meersburg.
Foto: Ulrike Gramann

Begegnung · Buchstabenfracht