Ein Papierstapel liegt noch auf der Kommode. P. ist reich beschenkt von handschriftlichen Briefen und bunten Karten, die dem Jahr gute Wünsche mitgeben. In jedem Brief liest P. auch von Sorgen, die dem gerade zur Welt gekommenen Jahr in Herz, Hirn und Hosentaschen stecken.
Uns geht es gut, nur die Politik macht uns Sorgen. Wie oft hat das neue Jahr das schon gehört? Kein Wunder, dass es uns auf Abstand hält. Schneeschauer fliegen beinah waagerecht vor den Fenstern vorbei, das Jahr wirft mit Regen und Eis, es fegt harten Wind durch die allerletzten Blätter des alten Jahrs und liegengebliebene Reste des Silvesterfeuerwerks.
Neues Jahr braucht Kraft und Mut. P. lädt Gäste ein. Hier steht der Tisch, hier haben wir Teller, Becher, Kuchen, da der herzwärmende Kaffee, hier der Wein, der den Geist beflügelt. Jahr stärkt sich, Jahr schaut mit großen Augen, Jahr hört zu, wenn Geschichten erzählt werden. Geschichten lieben alle am Tisch. Wer in den Weihnächten gearbeitet hat, ruht sich aus. P. hatte frei und kann was abgeben. Sorgen lieben es, wenn wir allein bleiben. Neues Jahr liebt es, wenn wir miteinander sind.
Die Gäste gehen, Freundlichkeit und Wärme bleibt. Kommt wieder!, denkt P. Bleiben soll der schönste Wunsch in den Briefen, der mehrmals vorkam: gute Gespräche, erhellende Begegnungen im neuen Jahr. P. gibt den Wunsch hiermit weiter, hinaus in die Welt und ins neue Jahr!
Ein Papierstapel liegt im Drucker. Komm näher, Jahr, da ist deine Arbeit!
Kaum schwimmt P. los, werden zwei Bahnen abgeteilt. „Auf dieser Bahn findet Schwimmunterricht statt.“ Aus der Dusche kommt ein Junge und guckt, andere Kinder kommen hinterher. Erst mal gehen sie zum Nichtschwimmerbecken: Erwärmung. Bisschen Krach.
Die Morgenschwimmerinnen schwimmen weiter. Im vollen Stadtbad wird jede Bahn genutzt, solange es geht. Schließlich kommt die Klasse mit dem Sportlehrer. Wir tauchen unter der Absperrung in die Sportschwimmbahn. P. freut sich über die Kinder in der Nebenbahn. Ungefähr ein Viertel aller Schülerinnen und Schüler können nicht schwimmen, in manchen Bundesländern sogar mehr.
Dabei kann schwimmen Leben retten.
Schwimmen im Meer, Schwimmen in der Halle, das Licht, das im Wasser glitzert, das Blubbern der Luft beim Ausatmen unter Wasser, die Frauen, die einander zunicken, die Schwimmerinnen. Und die silbernen Badelatschen!
Das Jahr geht. Immer stand eine Blume auf dem Schreibtisch. Wenn sie verwelkte, besorgte P. schnell eine neue. Eine Freundin sagte P.: „Mit einer Rose arbeitet es sich anders.“ Oh wie wahr.
Es war ein ernstes Jahr, und alle wissen, warum.
Am Ende dieses ernsten Jahres erscheint dieser eine Lichtblick der Gerechtigkeit. Eine mutige Frau hat sie erkämpft, Gisèle Pelicot in Avignon, die den Mut hatte, ihren Namen zu nennen und zu bezeugen, was Männer ihr angetan haben. Es klingt so einfach, und doch weiß jede, dass es alles andere als einfach ist, dafür zu kämpfen, dass Scham und Schande die Täter treffen. Endlich einmal die Täter treffen! Gesicht zeigen ist schwer. Gesicht zeigen kann Leben retten.
P. zieht den Hut vor Gisèle Pelicot.
Wir können uns am Ende dieses Jahres fragen, was Hoffnung bedeutet. P. meint: Hoffnung bedeutet nicht, dass man immer so weitermacht in der Annahme, es wäre sowieso nichts zu machen, nichts gegen gewaltvolles Gerede und gewaltvolles Tun, nichts gegen Umweltzerstörung, gegen Straßenlärm und Feinstaubbelastung. Hoffnung bedeutet, bei sich anzufangen und das für richtig Erkannte zu tun. Es ist schwer, P. weiß das auch. Und doch. Ohne hoffnungsvolles Tun keine Zuversicht.
So können wir am Ende dieses Jahres unsere kleinlichen Beschwerden einmal beiseite lassen und darauf schauen, was uns gelang in dieser Zeit und was unseren Nachbarinnen und Nachbarn gelingt, unseren Kolleginnen, den Freunden, den Mitfrauen.
Geh, Jahr! Du hast uns viel gegeben, manches genommen. Du hast uns einiges zugemutet. Vieles war ungerecht, etwas war gerecht. Du hast uns die Sonne gezeigt und den Regen, Badeanzüge und Rosen. Menschen haben gelogen. Menschen haben wahr gesprochen. Wir vergessen es nicht und nicht die Namen. Schließlich, einmal gab es Gerechtigkeit unter der Sonne. Das eine Mal für alle anderen gibt einen Funken Zuversicht.
Geh, Jahr, wir vergessen dich nicht.
Koordinaten: Historia. Wir hören die Stimmen, wir haben Gänsehaut.
Reden und Schweigen sind Länder, so steht es in einem der Texte in der neuen Ausgabe von:
Prolog. Heft für Zeichnung und Text Nr. 29: Grenzen, Übergänge, Visionen
Um genau zu sein, so steht es in P.s Text und in Gramanns. Sie wissen ja, dass P. und Gramann nicht immer, aber sehr oft ähnlicher Ansicht sind. Und sie schreiben auch gemeinsam, bisweilen.
Über Grenzen gehen, an Grenzen scheitern, Übergänge finden, Übergänge suchen, Visionen folgen, Visionen abweisen, haben, suchen, übertragen, begrenzen: Was bedeutet all das? Damit beschäftigt sich das neue Prolog-Heft.
Reden und Schweigen sind Länder – undurchdringbar scheint ihr Schutz – Ich bohre Löcher. – Glücksmomente der Geschichte – meine Hoheitsansprüche – täuscher täuschen täuschbereite – grenzenlose Endstationen – Vor hundert Jahren hättest du hier sein müssen – Knatterpauz – nur Haut zwischen uns – Industrial sound. Klirrend, rauschend. – die grenzen meiner sprache – Horizonte, die lichten, die trüben – grüß mir die Sonne (Zitate aus verschiedenen Texten Prolog 29)
Alle sind begeistert, schreibt die Redaktion, und alle, denen es P. bislang in die Hand gedrückt hat, sind ebenfalls angetan. Sie sollten die Zeichnungen sehen, Sie sollten die Beiträge lesen, dann wissen Sie, warum diese alle das finden. Poliander übrigens auch.
Vorsicht, Leserin, Obacht, Leser,
dies ist ein Werbepost.
Poliander hat dafür kein Geld bekommen, und verwandt oder verschwägert mit der Prolog-Redaktion ist P. ebenfalls nicht. P. ist mit den Texten verwandt und mit den Zeichnungen und mit dem, was Schreiben und Zeichnen ausmacht. Das ist substantiell für P.s Arbeit und für Gramanns Arbeit auch.
Kunst und Literatur zusammenzubringen, in der wohlgestalten chaotisch geordnet-ungeordneten Ordnung, die von der Arbeit kommt und die das Leben bedeutet, das ist, was diese tolle Zeitschrift ausmacht. Dass wir zueinander kommen, Kolleginnen, Leser, Seherinnen, Kollegen, Schreiberinnen und Schauende, Lesende und Schreiber, einfach alle, die neugierig sind und Austausch wollen. Dass wir voneinander wissen. Wir nennen das Gemeinsamkeit, es ist ein Vergnügen, es ist Arbeit, es ist Aufregung, es ist Trost. Wir nennen es solidarisch, wir nennen es demokratisch.
Lesen Sie selbst, was die Prolog-Redaktion schreibt:
„Prolog ist eine künstlerische Schnittstelle zum Austausch, diese Schnittstellen sind rar. Es gibt keine Partei oder starke Lobby, die sich für die Kunst jenseits des bürgerlichen Müßiggangs einsetzt. Der Kulturabbau ist rasant. Als Künstler*in sind wir einzelne unter vielen (darum können wir nicht Partei werden). Also bedarf es der Solidarität mit Orten, materielle oder immaterielle, an denen wir Austausch und Reibung finden.“
Und ja, das heißt auch etwas für Sie, Leserin, für Sie, Leser:
„Um weiterzumachen, brauchen wir Abonnentinnen. Wir könnten jetzt erzählen, dass ein Abo wenig Geld kostet, dass das Heft einen Mehrwert hat, dass es toll ist, ohne Mühe etwas von bekannten und unbekannten Kolleginnen zu sehen oder zu lesen und inspiriert zu werden. Das könnten wir. Oder einfach sagen: Prolog ist eine künstlerische Schnittstelle zum Austausch, diese Schnittstellen sind rar.“
P. muss nichts hinzufügen. Oder doch: Advent kommt, Weihnachten kommt, Geburtstage, Sonn- und Feiertage kommen. Und vor allem Alltage, davon kommen ganz viele, die kommen immerzu. Und was braucht man im Alltag? Genau, da braucht man Schönheit, Abwechslung, Ausblicke auf Kunst und Einblicke in Literatur, man braucht manchmal Weisheit und oft Kühnheit, grad im Alltag, liebe Leser und Leserinnen, da braucht man all das, was das Herz weit, die Augen klar und den Kopf frei macht. Und davon gibt es reichlich, nicht nur, aber auch und gerade in Prolog. Also, schaut zu und lest hin, Ihr Lieben!
Und wo finden Sie Prolog?
Hier entlang geht’s zum Heftkiosk, links Bestellprozedere, Abobedingungen in der Spalte rechts.
Und für alle, die grad in Berlin weilen: Hier findet man die Hefte auch im Buchladen zur schwankenden Weltkugel (Kastanienallee), in der Buchhandlung Walther König Berlin (Museumsinsel) und im Bücherbogen am Savignyplatz.
Ende der Werbeeinblendung. Dank an alle, die bis hierhin gelesen haben.
Bald wieder, bald mehr und jetzt sofort herzliche Grüße von Gramann und von Poliander
veranstaltet von dem Autor Matthias Rische im Kunstforum Schöneberg. Dort lesen am dritten Mittwoch dieses Monats Annette Wenner und Ulrike Gramann aus ihren Büchern. Gramann liest aus: Die Unberechenbarkeit des Lebens. Matthias Rische führt das Gespräch. Und Samken Musiq spielt afrikanische Rhythmen.
Weil ein gemeinsamer Abend mit anderen Künstler*nnen stets etwas Besonderes ist, freuen Poliander und Gramann sich ganz besonders darauf und laden alle herzlich dazu ein!
Wann und wo?
LiteraturTalkShow Eselsohren
am 16. Oktober 2024, 19.30 Uhr (Einlass 19 Uhr) Kunstforum Belziger Str. 1 in 10823 Berlin-Schöneberg
Anmeldung und Reservierung ist notwendig und freundlich erbeten über Kunstforum Belziger 1
Eintritt frei! Beitrag in den Hut willkommen!
Mit einem Hauch von feinstem oktoberlichem Lindenblattgold grüßt herzlich und vorfreudig Ulrike Gramann
P. beendete die Zeit der Nächte, die bei 32 °C begannen und an deren Ende schon wieder die Schwüle regierte, indem sie die Stadt verließ. Am Tag der Abreise, hörte P. später, begann es zu regnen.
Oh, und es regnete auch, als P. und der Gefährte die Fähre bestiegen. Es war die große, die Autofähre (für Insiderinnen: Wer zu Fuß kommt, muss nicht vorbuchen). Das leichtere Schiff, das, das den Adler im Namen trägt, das, von dem aus man schon unterwegs die Seehunde sieht, ging nicht. Denn der Wellenschlag war so stark, dass es wohl abgehoben wäre. Die großen Wellen also schlugen gegen den Unterboden der Fähre: Wumm! Wumm!
Ja, und es regnete, als der Gefährte und P. die Fähre verließen und ihre Rucksäcke zur Villa buckelten, ja, zur der, von der man den weiten Blick hat: bei Hochwasser 2 km Sand bis zum Spülsaum, bei Niedrigwasser sogar 3. Ein Zimmer zur Miete mit Blick vom Küchentisch hinaus übern Strand. Aber da sitzen blieben sie nicht. Zum Strand gingen sie auch bei Regen, dahin, wo das erste Glas Wein der Reise wartet, jedes Mal wieder. Am Morgen strahlte ein Regenbogen, der einen Fuß im Watt stecken hatte, den anderen im Sand. Riesig stand er über der Insel und rahmte sie mit seinen Füßen.
Doppelt schien er auch, doch dieses Phänomen ist keins zum Fotografieren. Ein Regenbogen existiert und ist zugleich ein Symbol des Göttlichen, das Herz und Hirn erfüllt. Fortan, wie immer, wenn man durchnässt und in Böen eintrifft, bot die kleine Insel alles an Sonne, Wind und Wolkenspiel auf, was das Herz begehrte. Und ah!, ein Frösteln. P. begrüßte die halb vergessene Empfindung erfreut.
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
was braucht es der Worte mehr? Geschwommen sind sie auch in den herrlichen Wellen.
Und gegangen, kilometerweite Wege durch den weichen, weißen Sand, wo sie das Glück des Nordens wiederentdeckten, den Wind und das Alleinsein mit dem Geräusch der Wellen. Menschen waren da auch, oh ja, doch noch viel mehr Vögel, zu Hunderten saßen sie im Watt und begrüßten jede Ebbe aus ihrem Innersten, von dort, wo die Liebe hindurchgeht, vom Magen her. Denn die Reise der Knutts, der Stare und Gänse, sie wird erst beginnen, wenn sie sich vollgegessen haben, dort im Watt, an all den kleinen und kleinsten Lebewesen, die das zurückweichende Wasser freigibt in Schlick und Sand. So geschieht es jeden Herbst. „Weil das Leben schön ist“, kreischten die Möwen. Und P. kaufte ein Shirt mit den Koordinaten der Insel. P. und der Gefährte gingen und gingen und fühlten die Ribbel unter den Sohlen und den Muskelkater in den Hüften. Ah.
Wo aber fanden sie das Haar in der Suppe, den Haken am Kniep?
Zum ersten Mal, seit P. und der Gefährte dorthin kommen, war die Insel der Vögel auch eine Insel der Mücken, der kleinen Gnitzen, und der gewöhnlichen, der fetten Stechmücken. Sie schwärmten aus, tags und nachts. Und an den Tagen, an denen der Wind nachließ, die Wellen ein wenig versandeten, erschien ein Teppich aus Braunalgen und machte den Einstieg zum Schwimmen unangenehm und schlüpfrig. So waren sie zwar der heißen Stadt entflohen, nicht aber der Klimakrise, denn Mücken und Algen sind die Zeichen des viel zu warmen Sommers, der in diesem Jahr auch dort herrschte, am nördlichen Meer. Und so atmete diese Reise die Moral der Geschicht und den Anspruch der Geschichte, die Einsicht im Wellenschlag: Es hilft nur, das Leben zu ändern, das eigene. Leser und Leserin, Sie wissen, was wir meinen: Die Fußabdrücke vom Gehen sind so groß wie die Füße. Und die CO2-Fußabdrücke, sie dürfen nicht mehr größer werden, sondern müssen schrumpfen. Nichts anderes hilft, und jeder fasse sich dabei an die eigene Nase, die von der Sonne verbrannte.
Zurück in der Stadt, die Kastanien haben all ihre Blätter schon verloren. Auch das, Sie wissen schon. Doch endlich auch hier ist es nun kühl, ein Septemberende fast wie damals, vor der Krise.
Am Tag nach der Rückkehr laufen Tausende durch die Stadt. Berlin-Marathon: die reinste Freude von allen für alle. Wer laufen mag, kann dabei sein, und auch wer schauen mag, ist willkommen. Und alle jubeln den Läufern zu und Läuferinnen. Kein Neid, kein Spott, nur Freude über alle anderen, die Laufenden und Schauenden. P. steht und schaut und freut sich wie jedes Jahr. Mein Lieblingsfest in der Stadt! Das reinste Vergnügen.
Was gibt es Schöneres als im Sommer im Garten zu sein und im Schatten dieses alten Baumes, des knorrigen, von dessen Zweigen die ersten Kornäpfel hängen – oh, wie sie duften! – also im Schatten, durch den bewegte Lichter spielen, zu sitzen und zu lesen?
Antwort?
Keine?
Oh, aber doch beinah genauso schön ist es, womöglich schöner, in diesem Garten hinter der Buchhandlung, im Sommer und am frühen Abend, wenn das Licht gerade noch durch die Zweige und die Blätter scheint, ausruhen und lesen hören. Und das wird bald sein.
Kommt in den Garten! Wir laden herzlich ein:
Katrin Heinau und Ulrike Gramann im LeseGarten der Buchhandlung Lesezeichen
Katrin Heinau liest aus Tante Hilde in Gelb oder Alle sind verdächtig Ulrike Gramann liest aus Die Unberechenbarkeit des Lebens und Musik macht Cornelia Vraceanu am 16. August 2024, um 19.30 Uhr in der Buchhandlung Lesezeichen Prießnitzstr. 56, 01099 Dresden
Bei Regenwetter an einem trockenen Ort.
Wir freuen uns auf ein Wiedersehen und grüßen herzlich und sommerlich Poliander und Gramann
lange haben wir nicht von einander gehört. Dabei hätte es einiges zu berichten gegeben, eine Reise ans Meer, ein deutsch-türkisches Kinderbuch, ein Film über die Malerin Maria Lassnig, eine Lesung in Bernburg an der Saale, wo man P. so freundlich und offen begegnete, dass es eine Freude war. Und auch Sie haben, ihr habt ganz sicher mehr erlebt als sich in wenigen Worten sagen ließe. Oh, P. und Gramann, wir läsen sehr gern von guten Neuigkeiten!
Doch schreiben möchten wir heute etwas anderes, von einem Roman, gelesen vor Jahren, und einer Theateraufführung aus dieser Spielzeit, soeben gesehen.
Also, was wir erzählen wollen:
1938 erschien in den USA der Briefroman Address unknown. Seine Autorin, Kathrine Kressmann, veröffentlichte ihn unter dem Namen Kressmann Taylor. Sie dachte, ein so politischer Roman, geschrieben von einer Frau, würde in der Literaturwelt nicht ernst genommen.
Sie irrte sich.
Der Roman, eine Novelle eher, in der deutschen Übersetzung gerade einmal 55 Seiten lang von Seite 7 bis Seite 62, wurde berühmt. Er erschien zuerst in der Zeitschrift Story, dann, 1939, als Buch. 1944 wurde er verfilmt. Im NS-Deutschland wurde das Buch sofort verboten. Als der Text in den 1990er Jahren wiederentdeckt wurde, hat man ihn in zahlreiche Sprachen übersetzt, in Frankreich wurde er zum Bestseller und in Deutschland immerhin bekannt. Warum auf dem deutschen Buchtitel auch heute nicht der volle Name Kathrine Kressmann Taylors steht, konnte P. nicht herausfinden.
Das Buch erzählt in ein paar Handvoll Briefen, datierend aus den Jahren 1932 bis 1934, die Geschichte der Freundschaft zwischen Martin Schulse und Max Eisenstein und davon, wie aus dieser Freundschaft Feindschaft wird.
Die Freunde betreiben bis Anfang der 1930er Jahre gemeinsam eine Kunstgalerie in San Francisco. 1932 kehrt Martin Schulse nach Deutschland zurück, Max Eisenstein bleibt und führt das Geschäft in den USA weiter. Zunächst bleiben sie Freunde und Geschäftspartner, und einträglich bleibt das Geschäft, für beide. Doch was Martin aus Deutschland schreibt, lässt den jüdischen Freund Max zunächst zweifeln, dann schaudern. Dann zerstört es ihre Freundschaft. Martin lebt in Deutschland mit Frau und Kindern in großem Wohlstand, macht erstaunlich schnell und erstaunlich gut Karriere. Die Geschwindigkeit, in der er nicht nur zu einem überzeugten Nazi wird, sondern auch die antisemitische Propaganda aufgreift und sie sogar seinem jüdischen Freund gegenüber verteidigt, erschüttert beim Lesen der konzentrierten, knappen Briefe. Ihre Freundschaft endet in politischem Bruch und persönlichem Verrat. Martin verweigert Max‘ Schwester Griselle, die doch einmal seine Geliebte war, die helfende Hand, Griselle wird ermordet.
Doch das schmale Buch ist auch die Geschichte einer Rache. Wie diese bewerkstelligt wird, erzählt P. hier nicht.
Das Kleine Theater am Berliner Südwestkorso hat die Geschichte jetzt inszeniert, mit sparsamen Mitteln und lediglich zwei Darstellern. Ihnen gelingt es, die Briefe zu einem Stück zu fügen, dem man gebannt und getroffen folgt. Und der kleine Saal ist voll, seit der Premiere meist ausverkauft, sodass man leicht mitbekommt, wer im Publikum das Buch nicht gelesen hat und zur Pause meint, die traurige Geschichte sei an ihrem Ende. Weit gefehlt!
Und am Ende ist gewiss: Kathrine Kressmann Taylor hat sehr früh ein ganz unwahrscheinlich hellsichtiges, klares und konzentriertes Buch geschrieben. Die Geschichte ist fein gesponnen und in kaum zu übertreffender Kürze auf den Punkt gebracht, sie ist reine Fiktion und kommt der historischen Wahrheit doch so nahe wie nur möglich. Dass und wie aktuell dieses Meisterstück ist, muss kaum extra betont werden. Aber es auslassen, das können wir, P. und Gramann, keinesfalls.
Liebe Leser, liebe Leserinnen,
in der nächsten Spielzeit wird das Stück wieder aufgenommen. Wer in der Stadt ist: Unbedingt hingehen! Und alle, die in der Stadt sind oder woanders: Unbedingt lesen!
Wir wünschen allen einen schönen Sommer, mit Sonnenlicht für den Körper und erhellender Lektüre für den Kopf, herzlich Poliander und Gramann
Koordinaten: (Kathrine) Kressmann Taylor: Adressat unbekannt. Aus dem Amerikanischen von Dorothee Böhm. Hamburg: Atlantik Taschenbuch (Hoffmann und Campe) 2014. Kleines Theater: Empfänger unbekannt. Aktuelle Termine findet man hier.
Regen bringt Segen. P. wuchs auf dem Dorf auf und lernte von Kindesbeinen, dass es ohne Regen nicht geht.
An diesem Wandertag zum Beispiel hatte P. die nass quatschenden Schuhe längst ausgezogen und trug sie in der Hand während der Annäherung ans Herkunftsdorf. Das Ziel der Schritte war der schmale Weg aus Sandsteinplatten, die zum Haus führten, rechts und links glänzten nass die Kieselsteine, weiß und orange gefleckt, im Ohr hatte P. das Platschen der Füße im nassen Wanderweglehm auf dem Grund der Pfützen. Dann dieses körnige Gefühl unter den Sohlen vom Dorfstraßenasphalt. Und so weiter. Die Erwachsenen im Haus begrüßten das Gewitter, denn Wasser war kostbar, und sei’s weil es getragen werden musste. Auch P. hat oft Gießkannen getragen, zum Gemüse hin und manchmal den Blumen, doch stets ging das Essbare vor.
In der Stadt, wo P. jetzt wohnt, ist Regen für viele zuerst ein Ärgernis, „schlechtes Wetter“. Doch auch diese Leute wollen im Sommer gern unter Kastanien und Linden sitzen, nach der Arbeit, beim Wein.
Für andere ist Regen längst ein Politikum. Seit das Klima sich verändert – seit Jahrzehnten, und ebenfalls nicht erst seit gestern wissen wir von den Grenzen des Wachstums – also seit das Klima sich krisenhaft verändert, ist das Wetter tatsächlich politisch geworden. Regen bringt Segen, und wer’s nicht wüsste, muss nur ins Land Brandenburg schauen, wo die Wälder in beinahe jedem Sommer brennen. Der Rauch ist bis tief ins Herz der Stadt zu spüren, er reizt die Lungen der Stadt und der Menschen, die sie bewohnen, und mit jedem heißen Sommer wächst die Sorge, an der Klimakrise zu ersticken.
Auch darum schrieb der Berliner Verband der Schriftstellerinnen und Schriftsteller im letzten Sommer den REGEN als Thema für den herbstlichen Lesemarathon aus. Gefragt waren kurze Beiträge, lyrische, erzählende, außer dem Thema war alles freigestellt. Zusätzliche Brisanz erhielt das Literaturprojekt durch den Vorschlag, die eigene Arbeit mit einem Text zu ergänzen, der durch ein „KI“-Programm generiert werden sollte. Einige taten das auch, und es zeitigte erwartbare Ergebnisse, die gleichwohl ein Argument in der Diskussion um die Möglichkeiten, Grenzen und Risiken von artificial intelligence sein können.
Aus den Einsendungen wurde nicht nur ein kurzweiliger langer Leseabend, sondern auch eine Anthologie, die jetzt im Hirnkost Verlag Berlin erschienen ist. Regen-Texte enthält sie viele, dazu einige Prompts für ein KI-Programm und Ergebnisse der KI-gestützten Texterstellung. (Hier passt’s mal, das schlimme Wort „Erstellung“.)
Aber sehen Sie selbst:
Was P. noch mitteilt: 1. Ulrike Gramann ist mit „Regen und Zorn“, einem lyrischen Text in der Anthologie vertreten. 2. Einen Prompt für das KI-Programm hat sie nicht geschrieben und demzufolge auch keinen künstlichen Text von ChatGPT generieren lassen.
Und: Es ist ein schönes Buch entstanden, mit farbigen Seiten, die zwischen die Beiträge gebunden sind, Lesebändchen und einem Umschlag, der gut in der Hand liegt. Über die Texte, die Inhalte, die Form rät P., bilden Sie sich selbst eine Meinung. Lesen!
Koordinaten: Regen in Zeiten der Klimakrise oder Kann ChatGPT Literatur? Herausgegeben vom VS Berlin. Konzipiert, zusammengestellt und bearbeitet von Martina Wildner, Edith Ottschofski und Henning Kreitel. Hirnkost Verlag Berlin 2024.
Er, der Frühling. Sie, die Hummel. Elegant hat sie ein Bein unter den Körper gezogen und bewegt sich in der warmen Sonne, sie, das feministische Tier: dick, kann fliegen, bringt den Frühling.