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Kranz oder Krone (23) – Vollmond und Lektüre im Homeoffice

09.04.2020 · poliander

Der Ostervollmond dieser Nacht, so nah wie nie, so groß, so rund, so bald über dem Horizont. Erst schläft P. ganz tief, dann ist sie ganz wach. Das Licht erhellt das Zimmer so, man erkennt sogar Farben im Dunklen.

Das ist schön.

“Entlang den Gräben” also, P. wollte mehr davon erzählen: Reportagen sind es nicht eigentlich, auch keine “Hochgeschwindigkeitsreportagen”, wie die Süddeutsche sie kritisch nannte. Obwohl Kermani mit sehr vielen Menschen im östlichen Europa und an den Rändern zwischen Osteuropa und Asien gesprochen hat, mit Gesprächspartner!nnen beinahe jeder politischen Farbe, hat P. am Ende der – spannenden! – Lektüre dennoch nicht das Gefühl, umfassend informiert zu sein. Vielmehr zeigt sich vieles, das ein tieferes Nachgraben lohnt und auch erfordert. Historische Kenntnisse und die Bereitschaft, weiterzulesen, andere Quellen zu bemühen, helfen bei der Einordnung der von Kermani, der hier weit mehr Erzähler ist als Reporter, berichteten Ereignisse und Meinungen. Davon allerdings gibt es eine unglaubliche Fülle, P. nimmt immer wieder das Lexikon in die Hand oder bemüht eine Suchmaschine.

Der Erzähler Kermani geht überall hin, in die Sonntagsschule, in der eine syrische Lehrerin in Schwerin Kinder im Arabischen unterrichtet, und zu den Leuten der Schweriner AfD, er hört allen zu, widerspricht wenig. Was gesagt wird, spricht für sich. Dann fährt er nach Auschwitz und wird schon im ersten Moment konfrontiert: Eine Sprache muss er angeben, in der er durch die Gedenkorte geführt werden wird. Der 1967 in Siegen Geborene, dessen Eltern aus dem Iran kamen, wählt “deutsch” als Sprache und erhält einen Aufkleber mit eben dieser Aufschrift, um ihn sich auf die Kleidung zu kleben, er sagt: auf die Brust. Indem er seiner Zugehörigkeit zur deutschen Sprache und Kultur gewahr wird, stellt er irritiert fest, dass (auch) er sich schämt, als seine Besuchergruppe, wie jede, am Tor mit der Aufschrift “Arbeit macht frei” fotografiert wird. Auschwitz bleibt auf einer Reise durch Europa nicht der einzige Ort, an dem, wer deutsch spricht, Grund hat, mit sich selbst kofrontiert zu sein. (Die Leserin zum Beispiel.) Oft wird man auf dieser Reise mit Zeugen und Zeugnissen deutscher Verbrechen konfrontiert, ganz besonders in Weißrussland, wo die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD mit Wissen und Unterstützung der Wehrmacht und auch die Wehrmacht selbst wüteten wie in keinem anderen Land, genauer: noch mehr als in jedem anderen Land.

Und oft ist die Rede vom Nationalismus, dem alten und neuen, aber auch davon, wie dieser Nationalismus in Menschen entsteht. Das macht den Nationalismus nicht besser, das, was Menschen denken, aber leichter zu begreifen. Die Leserin erfährt dabei etwas über Geschichte und sehr viel darüber, wie Leute von Geschichte erzählen. Kermani besucht Orte des Krieges, das sind Orte, an denen er eben noch stattfand, in Europa, und in denen er immer wieder neu aufflammt, aufgeflammt wird, muss man sagen. Man liest vom Verschwinden der Vielfältigkeit in Europa, davon, dass in Regionen, in denen jahrhundertelang Menschen unterschiedlicher Sprachen und verschiedener Religionen oft ruhig und friedfertig miteinander oder nebeneinanderher lebten, sie erst im 20. Jahrhundert gewaltsam getrennt wurden. Und was die Gründe sind. Und dass sich das im 21.Jahrhundert fortsetzt, als hätten wir alle keine anderen Sorgen. Was hat das mit den großen Mächten zu tun, was mit Europa, was mit aktueller Politik von Staaten und mit europäischer Politik, und endlich: Was hat das mit mir zu tun? Zum Beispiel damit, wahrzunehmen, dass auch die Krim zu Europa gehört und dass der Kaukasus näher ist, als man denkt, auch dann, wenn man ihn als Trennlinie zwischen Europa und Asien betrachtet. Gerade im Kaukasus folgt er den Trennlinien und Trennungsgründen fast besessen.

Vielleicht hat P. sich manchmal beim Lesen über Kermani geärgert, ihn für nicht so gut informiert wie möglich gehalten. Dass er den Wegen von Menschen nachgeht und nachhört, ihren freiwilligen und erzwungenen, dass er fragt, wie die Anderen, die je Anderen von ihren Wegen und von denen ihrer Vorfahren erzählen, dass er mit allen spricht, mit Weißruss!nnen, Ukrainer!nnen, Krimtatar!nnen, Aserbaidschaner!nnen, Jüd!nnen, Tschetschen!nnen und so vielen anderen, wurde P. trotzdem wichtiger. Am nächsten fühlte P. sich dem Erzähler Kermani, als er mit Akram Aylisli spricht, einem bekannten aserbaidschanischen Schriftsteller. Im aserbaidschanischen Staat bis dahin hoch angesehen, veröffentlichte er 2012 seinen Roman Daş yuxular (dt. Steinträume), in dem er über die antiarmenischen Pogrome der Jahre 1989 und 1990 in Baku schreibt – und über die Massaker, die türkische Truppen 1919 an den Armeniern seines Heimatdorfs verübten. Danach wurden Aylislis Bücher in Aserbaidschan verbrannt, er wurde mit Ausreiseverbot belegt. Im Haus des Schriftstellerverbandes wurde sein Bild abgehängt, er selbst zum “Feind der Nation” ausgerufen. Dennoch sagt er: So viele meiner Freunde mussten gehen (Aserbaidschan verlassen – UG). Meine Freundschaften mit Armeniern sind mir mehr wert als meine Unabhängigkeit.

Es gibt nicht viel, das P. an dieser Stelle hinzufügen kann.

Vom Vollmond hat P. nun doch nichts weiter geschrieben. Heute wird er noch einmal fast perfekt rund sein, auch in den nächsten Tagen, er wird morgens, wie am heutigen Morgen, riesig und blassgelb vor einem zartgrauen Himmel stehen. Wahrscheinlich. Und weiter ist es ein Mond in einer Zeit vielfältiger Beschränkungen, wegen einer Viruserkrankung, die sich verbreitet hat. Aber ja, es existieren andere Themen in der Welt! Wir, die wir ins Homeoffice gezogen sind, die wir nicht Schwerkranken ein Beatmungsgerät anlegen, die wir keine Busse fahren und auch nicht im Supermarkt Waren einräumen, wir haben Zeit und guten Grund, uns mit diesen Themen zu beschäftigen.

Koordinaten: 108.202 (Zahl laut RKI vom Zeitpunkt 9. April 2020, 0 Uhr, online aktualisiert um 8 Uhr). Ostervollmond in der DLF-Sternzeit vom 7. April 2020 (nicht dauerhaft online). Navid Kermani, entlang den Gräben. Eine Reise durch das östliche Europa bis nach Isfahan. München: Beck 2018.

Kranz oder Krone
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