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Kranz oder Krone (24) – Feiertag im Homeoffice

10.04.2020 · poliander

5 Uhr morgens scheint der Mond so hell, dass die Vögel früher zu pfeifen anfangen. Wahrscheinlich haben sie noch früher angefangen, aber das hat P. nicht gehört.

P. steht bald auf. Heute ist noch nicht Ostern, aber Ostern wird kommen. P. bäckt einen Zopf mit süßem Hefeteig und Mohnfüllung. Für Ostern. Es ist so still wie an einem normalen Sonntag am frühen Morgen. Nur die Vögel sind zu hören.

Blick aus dem Fenster: Niemand joggt vorbei. Man sieht nicht einmal Insekten. Für die Bienen ist es noch zu kalt, sogar für die Hummeln.

Ein Zopf macht nicht viel Arbeit. Man muss sich nur im richtigen Augenblick daran erinnern, dass etwas zu tun ist.

Beim Frühstück sprechen wir über Karfreitag. P.s Gefährte sagt, dass es um die Entscheidung von Menschen geht, die das getan haben, also Jesus verraten, gefoltert, gekreuzigt, vom Kreuz abgenommen, begraben. Und so weiter. An ihn geglaubt. P. spricht von José Saramago, von seinem Roman Das Evangelium nach Jesus Christus. Darin streiten Gott und Teufel in Anwesenheit Jesu auf einem nebelumwölkten See. Die Kreuzigung erscheint dann wie eine bewusste Opferung mit dem Ziel, der Gemeinschaft dieses Gottes mehr Größe und Macht zu geben. Das ist keine Zusammenfassung des Inhalts. Saramagos Buch ist eines von P.s Lieblingsbüchern, das eben Erwähnte ist nur ein, wenn auch wichtiger Gedanke in einem vielfarbigen, handlungsreichen Roman.

Ja hat es mit dem Karfreitag zu tun. Es geht um die Frage: Wie tief geht es hinunter?

Während P. die Reste des Frühstücks wegräumt, läuft das Radio. Ohne zu wissen, wie das Hörstück heißt, in das sie sich hineingeschaltet hat, versteht P., dass es um Belarus geht, um die letzten Zeugen und Zeuginnen der Verbrechen der Deutschen in Weißrussland, um Menschen, die sie, die Verbrechen, als Kinder miterlebten, deren engste Angehörige davon getroffen wurden.

Ist das Zufall, dass P. gerade heute ein Hörspiel über Belarus und diese letzten Zeugen hört? Natürlich nicht, wenn man die Programmplanung des Rundfunks in Betracht zieht. Karfreitag ist ein guter Tag, das zu senden. Man hat Zeit und ist zu Hause. Es ist ein ernster Tag. Es ist noch nicht Ostern. Das Hörstück heißt: Ein paar Dutzend Worte und wurde geschrieben nach dem Buch Die letzten Zeugen. Kinder im Zweiten Weltkrieg von Swetlana Alexijewitsch. Jemand in diesem Hörstück sagt: “Für mich ist der Krieg fünfzig erschossene und getötete Verwandte.”

Wie tief geht es hinunter? Für die Täter.
Wie tief geht es hinunter? Für die Opfer.

P. denkt nicht, dass das dasselbe ist. Im Gegenteil.

P. erinnert sich an den Film Aufstieg von Larissa Schepitko. In diesem sowjetischen Film von 1977, der im Winter 1942 in Belarus spielt, geht es um Partisanen, die in einer bestimmten Situation vor den Deutschen fliehen. Sie werden gefangengenommen, gefoltert, einer widersteht, einer verrät. Am Ende steht die Hinrichtung dieser Partisanen und einer Bäuerin, die ihnen half. Sie gehen einen langen Weg einen Berg hinaus, auf dem sie vier Galgen erwarten. Das ist der Aufstieg, der Weg auf den Berg, auf dem sie ermordet werden. Der Verräter verzweifelt. Dieser sehr kunstvoll inszenierte und unvergessliche Film bezieht sich natürlich auf Motive des Karfreitags.

Was ist besser, sich erinnern oder vergessen? Das ist doch keine Frage.

Oder.

“Hat Gott das alles gesehen? Und was hat er gedacht?”, fragt einer der letzten Zeugen am Ende des Hörstücks.

Und ja, so ist es, eine bäckt einen Zopf, diskutiert ein bisschen beim Tee und denkt über solche Erinnerungen nach, über solche Fragen. Alles an ein und demselben Tag mit schönem Wetter.

Hören: Ein paar Dutzend Worte. Hörspiel beim DLF von Jochen Langner nach Texten von Swetlana Alexijewitsch. Nicht dauerhaft online.

Koordinaten: 113.525 (Zahl laut RKI vom Zeitpunkt 9. April 2020, 0 Uhr, online aktualisiert um 7:30 Uhr)

Kranz oder Krone
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