Polianders Zeitreisen

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Kranz oder Krone (22) – Lesereisen im Homeoffice

08.04.2020 · poliander

Poliander, in wiedermal jungen Jahren irgendwann in den 70ern also, lebte in einem Leseland. Es war ihr selbst gefundenes Land, und die Werksbibliothek eines thüringischen Industriebetriebs galt als seine Hauptstadt. Allein streifte P. durch die Regalreihen, und wenn sie im toten Winkel zwischen zwei Regalen weilte, stand die Bibliothekarin von ihrem Schreibtisch auf und spähte um die Ecken. Herrscherin also war P. keine, Untertanin konnte sie nicht sein. Nicht fortzukönnen aber, war eine existentielle Erfahrung in jenem Staat, in den blinder Zufall P. getragen und wo sie also ihr Land eingerichtet hatte.

Während Camus’ Pest in diesem Frühling des Jahres 2020 in den Auslagen der geöffneten Buchhandlungen erscheint, erinnert sich P. eines Buchs, das ihr beinah passender erscheint für diese Tage: Xavier de Maistre schrieb es 1790 während eines 42-tägigen Hausarrests in Turin, mit dem er bestraft wurde, weil er sich duelliert hatte. Es heißt: Voyage autour de ma chambre, dt.: Reise um mein Zimmer. Nicht dass Poliander damals das mit philosophischen und historischen Ausführungen und Andeutungen dicht gespickte Werk begriffen, womöglich ganz begriffen hätte. Die Situation des Reisenden war es, die P. ergriff. Gleich sah sie ihr Zimmer als eines, in dem sie reisen konnte, den Schreibtisch, den Stuhl mit den schräg gestellten Beinchen, den Bücherschrank, oh ja, kein Regal, ein Schrank mit gläsernen Scheiben, hinter denen man die Bücher sah, Ofen und Bett… P. verbrachte ganze Tage in diesem Exil der Leserin.

Betrachtung des Balkons als eines Hochgebirges: Hier siedelt die knospenfreudige Alpstachelbeere.

P. hat de Maistres Zimmerreise nicht noch einmal gelesen, später. Möglich wäre es, selbst bei geschlossenen Bibliotheken. Es scheint lieferbar zu sein.

Stille im Zuhause-Büro.

Es gibt ja Kommunikation.

Blick ins E-Mail-Postfach: Gabriele Freytag schreibt über ihre Lektüre von Roger Willemsens Wer wir waren. Offenbar passt Willemsens Buch in diese Tage erzwungener Stille, Heimarbeit, Einkehr. P. hat Willemsen nicht gelesen, darum hier nur ein Zitat aus Gabrieles Empfehlung: Wenn er vom dezentrierten Leben schreibt, der Existenzform der Rasanz, in dem wir uns permanent auf der Flucht befinden, auch vor uns selber, fällt es nicht schwer, genau die Beschleunigung zu erkennen, die wir gerade gezwungen sind zu verlassen. Das leuchtet unmittelbar ein, P. erkennt es wieder, das dezentrierte Leben, in dem die Beschleunigung uns längst aus der Mitte getragen hat.

Nicht dass P. Beschleunigung niemals gefiele. O doch.

Drinnen zu bleiben bedeutet nicht zwangsläufig Einkehr, schreibt Gabriele, Und zwischen vier Wänden stellt sich nicht automatisch Konzentration auf das Wesentliche ein.

Wie recht sie hat. P. versucht sich in Konzentration. In ihrem Beruf gerät ihr manchmal das Wesentliche aus dem Blick.

Wesentlich an der Stachelbeere sind je nach Saison Blüten oder Stachelbeeren. Zeitlos wesenhaft an P.s Alpstachelbeere jedoch sind die großen gemeinen Stacheln. Mancher bleibt lieber daheim, als sich auf die Alp zu begeben.

Auf Reisen soll man ja immer etwas Entgegengesetztes lesen, also bei einer Bergtour einen Bericht von einem Aufenthalt an der See, an der See die Beschreibung einer Polarexpedition. Und wer gerade nur um das eigene Zimmer kreist, sollte nach dieser Theorie in der Lektüre einer wirklich großen Reise folgen.

So eine Lektüre wäre beispielsweise Navid Kermani, Entlang den Gräben.

Der Gefährte brachte es ins Haus. Von einem Beutezug in den Buchladen wäre albern zu sagen, und doch hatte es etwas von Beute. P. griff sich das Buch sofort.

In den Jahren 2016 und 2017 reiste Kermani, genau gesagt: unternahm er Reisen von seiner Heimatstadt Köln über Schwerin und Berlin zu Orten in Polen, im Baltikum; er fuhr nach Minsk und an andere Orte in Weißrussland, nach Kiew und auf die Krim; er reiste nach Tschetschenien, nach Georgien, Aserbaidshan, nach Arzach (Berg Karabach) und Armenien und schließlich in den Iran, wo die beschriebene Reise in Isfahan an ihr Ende kam.

Die Orte sagen P. etwas oder viel, sie sind Schreckensorte der Geschichte und Orte des Schreckens in der Zeitgeschichte und Gegenwart; andere sind Orte persönlicher Erinnerung, Orte der Sehnsucht, Orte der Literatur, Orte, über die bisweilen viel und viel öfter kaum mehr etwas geschrieben wird. Ein großer Teil von Kermanis Reise bewegte sich durch Orte, die an der Peripherei der vormaligen Sowjetunion lagen und deren Gegenwart auch heute von der Geschichte einstiger russischer Reiche und der Politik des heutigen russischen Staates geprägt ist. Ja, man kann sagen, es ist eine Reise, auf der Kermani Menschen sehr oft von erzwungener Reise, erzwungenen Aufenthalten, von Deportation, Aussetzung und Morden, von versuchter, verdorbener und erreichter Rückkehr sprechen hört, von Feldzügen, Siegern, Besiegten, von Grenzen, Demarkationslinien, besetzten, kontrollierten und anderen Gebieten. Einmal steht er an einer Grenze zweimal, an der einen und der anderen Seite, und dazwischen gab es keinen Direktflug.

Die Geschichten, die Kermani erzählt von seiner Reise, wiegen schwer.

Das ist kein Spaß, und es ist kein Spaß, das so hinzuschreiben. Das geht Poliander was an, diese Geschichte. Da fallen auch Namen, die Eckdaten der Erinnerung markieren, der Name Tschernobyl zum Beispiel, der an ein Jahr erinnert, in dem der Frühling auch so war, so voller Blüten, voller Sonne und Wärme, wie gerade jetzt. Ein gefährlicher Frühling war das, nach dem nichts war wie zuvor, weil das, was in Tschernobyl geschehen war, irreversibel war, nie mehr aus der Welt wegzudenken.

Das ist es noch nicht mit Kermani, aber für heute ist es das. Morgen mehr, sein Sie nachdenklich, sein Sie heiter, herzlich, Ihre P.

Koordinaten: 103.228 (Zahl laut RKI vom Zeitpunkt 8. April 2020, 0 Uhr, online aktualisiert um 7:50 Uhr).
Freundlicher Hinweis auf Gabriele Freytag: einwilderort. Dank für die Erlaubnis, Sätze zu zitieren.

Kranz oder Krone
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