Polianders Zeitreisen

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Zurück nach Babel geht es durch den Fluss

18.02.2018 · poliander

FREIHEIT film von jan speckenbach

FREIHEIT Film von Jan Speckenbach

Trinkt sie aus dem Lethefluss, wird sie vergessen, die Seele. So sagt der Mythos, und so glaubt sie auch. Sie schöpft das Wasser mit der Hand. Eine Verwirrte kommt, spricht mit ihr, schreit sie an, ehe sie noch das Wasser vom Munde gewischt hat. Die Alte läuft davon, sie hat längst getrunken. Ob das Wasser auch bei ihr gewirkt hat, wird die Jüngere erst noch erfahren.

FREIHEIT ist ein Film, der schon des Titels wegen anziehend wirkt. Nicht so sehr, wie man meinen möchte. An diesem Wintersonnabend ist das mittelkleine Kino gut gefüllt, nicht ausverkauft. Es ist Berlinale, aber da sind wir grad nicht.

Nora ist eine Frau, die den Beruf, Mann und Kinder eines Abends verlässt. Sie erklärt nichts, sagt ihrer Tochter, dass sie sie “immer lieb hat”, geht aus der Tür, nimmt nichts mit außer der kleinen Handtasche, und die Ausweispapiere gehen auch bald verloren, beste Voraussetzung, im Vergessen zu sein.

Marlene Dietrich singt: “Wenn ich mir was wünschen dürfte”.

In Wien steht Nora vor Bruegels großem Turmbau zu Babel. Ihr Mann, Philipp, ein Anwalt, spricht in Berlin zu einem, der im Koma liegt. Er wurde Opfer eines rassistischen Überfalls. Nichts wünscht man sich mehr, als dass er die Augen öffne. Was wünscht sich der Anwalt? Er hat niemandem, dem er von sich erzählt als diesen stummen, im Koma schlafenden Mann. Und dessen Probleme sind es nicht, die da vor seine Ohren kommen. Was tut Philipp da? Philipp ist Anwalt des Täters, weil er das Mandat nicht loswerden kann in der Kanzlei.

Nora im fremden Bett, Nora im fremden Auto, Nora in der fremden Stadt. Nora unter fremdem Namen in einem fremden Hotel als Zimmermädchen mit einer Fremden. Nora bei der fremden Familie mit den fremden Kindern. Philipp mit den eignen Kindern, Philipp an der Tür der Oma, Philipp im Büro, Philipp mit Noras Freundin im eignen Bett. Philipps Tochter weiß eine Wahrheit. Nora in anderen Kleidern.

Verschwinden und im Vergessen sein, heißt doch, nicht beobachtet zu werden. Paradox, dass der Film Nora dabei zuschaut. Erklärungen gibt es wenige, “it’s complicated”, sagt Nora. Wird eine Erklärung gebraucht, um ein Zimmer zu bekommen, eine Nacht, einen Namen, lügt sie ein bisschen, nicht mehr als nötig. Wäre nicht diese Grenze zwischen Erzählung und Urteil, mit einem Urteil wär man rasch bei der Hand.

Dido singt: “Remember me.”

Sie geht hindurch, Nora, sie übt sich hindurch, sie schaut und schaut. Nach der großen Übertretung ist sie sparsam mit den kleinen. Heimlich rauchen aus dem Fenster.

Warum sie tut, was sie tut, erklärt sich am Ende des Films. Oder auch nicht. Und was tut sie da überhaupt? Besser zweimal hinsehn.

Von der Musik muss man sprechen, vom Gedicht, das klug gewählt ist und gleich an Gustav Mahler denken lässt, vom Licht muss man sprechen, das über die Bilder lichtert, vom Nebel, vom Abendbrottisch und zwei Spinnen. Von Johanna Wokalek und Hans-Jochen Wagner. Auf schlichte Art ist der Film sehr kunstvoll gemacht, und es muss große Arbeit gewesen sein, die Erzählung so lange von allem Überflüssigen zu befreien, bis sie wurde, wie sie nun ist. Unvoreingenommen gegenüber seinen Figuren lässt der Film sie, versucht auch nicht, uns Zuschauer*nnen zu überreden. Man weiß nicht, wieviele Menschen das mögen: nicht überredet zu werden. Wer den Film sehen mag, sollte daher nicht zögern.

Koordinaten: Kino. Spätwinter 2018. FREIHEIT. Speckenbach. Wokalek. Wagner.

Augenweide · Begegnung
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