Polianders Zeitreisen

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Große Tochter, endlich gesehen

08.01.2018 · poliander

Anita Rée_Weiße Nussbäume_1922-1925, Copyright Hamburger Kunsthalle

Anita Rée (1885–1933)
Weiße Nussbäume, 1922–1925. Öl auf Leinwand, 71,2 x 80,3 cm. © Hamburger Kunsthalle / bpk. Foto: Elke Walford

Weiße Nussbäume: Von den Stadt/Landschaften, die historische, oft vollkommen verlassen erscheinende Orte in Kampanien und Kalabrien zeigen, mag ich diese am meisten, die laublosen Bäume, Stille und Menschenferne. Es muss Menschen hier geben, an einer Mauer lehnt noch die Leiter, benutzt zum Beernten der Bäume vielleicht, vielleicht bereit, dass wer die Mauer übersteigen kann. Kein Horizont, nur eine Palme im Mittelgrund des Bildes täuscht ihn vor, indem sie den dunkleren Hintergrund für die Nussäste abgibt. Einen wirklichen Hintergrund gibt es nicht, nur wenige Häuserzeilen sind hintereinander gereiht. Leere Fenster, in einem sieht man die Ecke eines anscheinend ebenfalls leeren Raumes. Bögen, Stufen, eine Brücke führt in das Bild hinein, ob etwas unter ihr fließt, ob ein Weg darunter entlang führt, bleibt im Dunklen. Ein paar Zweige weisen hinein. (P.)

Als P. Anita Rées Namen in den Ausstellungsankündigungen der Hamburger Kunsthalle las, erkannte P. ihn gleich, verband jedoch kein Bild damit. Hamburg lockt immer, glückliche Fügung: Die Kunsthalle befindet sich unmittelbar am Hauptbahnhof. Fieseliger Regen an einem Donnerstagnachmittag zwischen den Jahren, die Kunsthalle ist besser besucht als nur gut.

Anita Rée (1885 bis 1933). Sie verstand es, das Leuchten in einem Blick zu zeigen. P. ist sofort gefangen von ihrem Blick, der aus Selbstbildnissen schaut: dunkel. P. denkt an die Brückemaler, das ist die gleiche kurze Epoche. (Bei denen haute es eben hin, oft richtig gut, oft hingehauen, nichts zählte außer Gefühl. Das ist eine andere Sache, denkt P., auch das mag sie.) Gleiche Epoche, und alles zählt. Anita Rée, alles zählt, ihre Eigenart, wie sie die Porträts malte: so viel Aufmerksamkeit für das Gegenüber, nichts ist genial dahingehudelt, alles Arbeit und Freude, jeder Strich, jede Fläche so genau, durchdacht oder gewusst. Wo sie die Farbe löst, auflöst, erscheint gleich Rätselhaftes, die Art Rätsel, die eine Lösung hat, man muss sie nur finden. Schatten hat etwas zu bedeuten, eine glatte Fläche aus Haar, die Auflösung einer Strähne, die Schatten wirft, überall erwartet P. Sinn, wenn sie lange genug hinsieht. Wie Rée jeden Menschen so lange angesehen haben muss.

Avantgarde :: fest erarbeitet.

Moderne :: selbstverständlich, tief verstanden.

Anita Rée, Selbstbildnis 1039, copyright Hamburger Kunsthalle

Anita Rée (1885–1933)
Selbstbildnis, 1930. Öl auf Leinwand, 66 x 60,8 cm. © Hamburger Kunsthalle / bpk. Foto: Elke Walford

Wie sie wohl geschrieben hätte, wenn. Das Leben als Arbeit gesehen, all diese Selbstbildnisse, all die vielen Porträts, die kalabrischen Frauen, die Freundin mit Kind auf dem Arm. Der Blick, an dem P. teilnehmen darf, ist freundlich, aber nicht beschönigend. Sie streckt ihren Hals, sie übertreibt ihr energisches Kinn, P. findet das sehr reizvoll. Auch reizvoller als all dieses Spiel in einem der Ausstellungsräume, dem Spiel wilder Tiere, Fabeltiere, den buntbemalten Schränken. Ja, das ist wundervoll und zum Wundern, und ja, solche “Doppelbusenkarte” von ihr als einer Freundin zu erhalten, wie schön muss das gewesen sein! Aber P. bleibt die bunte Welt dennoch fremd, ganz gleich, wie lang P. die Worte auf den Busenkarten entziffert, indiskret in das Leben der Absenderin, der EmpfängerInnen eintretend. Noch mehr Spiel, geschnitzte Figuren, eine Bühne fürs Marionettenspiel. Aber. Dann: der Ernst, der Erfolg, mit einem Mal auch Männerporträts unter zahlreichen Auftragsarbeiten. Hamburger Gesellschaft: große Tochter, große Arbeiterin.

So viel Publikum der lange Unbekannten. Hatte Hamburg die Tochter vergessen, die auch Tochter einer Hamburger jüdischen Kaufmannsfamilie war, einer tief assimilierten protestantisch geprägten Familie? Große Arbeit, viele Aufträge, tiefes Unglück. Anfang der 1930er Jahre lebt sie auf Sylt, Vereinsamung, Einsamkeit, Pläne, Klage, nicht arbeiten zu können, und doch so viel Arbeit, die sie tut. Sie malt Dünen, die monotonen Landschaften der Dünentäler, die Tiere, hungrige Schafe, einsame Tiere in dunklem Fell, eine hungernde kleine Herde im Schnee.

1933, auf Sylt, nahm Anita Rée sich das Leben.

Es gab noch nie eine umfassende Ausstellung von Anita Rées Arbeiten, die Anita-Rée-Retrospektive der Kunsthalle Hamburg ist die erste. Sie ist zu sehen bis zum 4. Februar 2018.

Liebe Leserin, lieber Leser,
beginnen Sie das Jahr mit Schönheit und Erinnerung, mit Bildern, die Sie sehen sollten. Machen Sie sich auf, schenken Sie sich einen Tag, gehn Sie hin.
Herzlich
Poliander

Koordinaten: 53° 33′ 18” N, 10° 0′ 10” O, Hamburger Kunsthalle, Anita Rée, Malerin (1885 bis 1935).

 

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