Polianders Zeitreisen

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Funktioneller Analphabetismus

03.08.2011 · poliander

Es gibt Menschen, die planen, das Nützlichste abzuschaffen, was Kinder – außer dem Lesen natürlich – in der Schule lernen, das Schreiben.  Man nennt diese Menschen Politiker. Die FAZ berichtet, ein Hamburger Schulsenator plane ernsthaft, das Erlernen der Schreibschrift in der Grundschule abzuschaffen. Ersetzt werden soll die schöne, schwingende, verbundene Schreibschrift durch eine sogenannte “Grundschrift”. Gemeint ist eine Schrift, die die Druckschrift nachahmen soll. Dass oder warum dies besser sein soll, ist nach den dankenswerten Recherchen der FAZ zwar nicht erwiesen, aber was gemeint ist, sagt recht anschaulich das Wort: Grundschrift.  Grundschrift wie Grundversorgung, kein Luxus, sondern Basics für die, die es nicht besser wissen, nicht schöner lernen oder sich nichts anderes leisten können. Grundschrift wie Grundversorgung, ganz wie bei der Zahnärztin, wo man zwischen dem krankenkassengezahlten Zement (bröckelmürb), selbst zu zahlenden dauerhaften Edelmetallen und nervenschädigend teurer, aber farblich stimmiger und zugleich harter Keramik wählen kann, wobei jede Variante, die Ärztin und Vernunft empfehlen, richtiges Geld kostet, und zwar immer das eigene. “Grundschrift” – Grundversorgung für alle, deren Mütter und Väter sich nicht die Zeit nehmen, ihr Kind das richtige Schreiben mit der Hand zu lehren, beispielsweise weil sie diese Zeit nicht haben, nicht zu haben glauben, weil es auch ihnen niemand beibrachte, weil sie es, der Kalliope sei’s geklagt, womöglich nicht wert befinden.

Poliander sagt es nicht gern, aber gern öfter: Schreiben mit der Hand, jene ausgreifende, auf und ab schwingende Bewegung, die sinnvolle Zeilen aufs Papier bringt, bringt uns erst ins Bewusstsein, was Schrift, was Text ist, ja sie bringt diesen Text aus uns hervor, aus den lockeren, regelmäßgen Schwüngen, die uns so gemäß sind. Das verbundene Schreiben mit der Hand formt nicht nur unsere Handschrift, es transferiert unsere Gedanken in Zeichen auf Papier, und schließlich, verselbständigt, hilft es uns, unsere Gedanken zu ordnen, ja, sie überhaupt erst zu finden. Bewegungsmuster und Gedankenspiel, Motorik und Formulierung sind eng verbunden. Wer viel schreibt, viel mit der Hand schreibt, weiß, wie sich, wenn es erst einmal habituell geworden ist, die Gedanken einstellen, sobald die Hand den Stift ergreift – nichts regt so sehr zum Schreiben an wie das Schreiben. Unausweichlich ist die Verbindung zwischen der lockeren Handbewegung und dem Gedächtnis, die Bewegung des Schreibens verbindet sich mit dem Inhalt des Geschriebenen, oft so sehr, dass die Schreiberin das Notizbuch gar nicht mehr öffnen muss, hat sie das Schöne und Wichtige erst einmal notiert. Doch nur eines fürchten Politiker mehr als unsere Gedanken: unser Gedächtnis.

Koordinaten: 53° 33′ N, 10° 00′ O. Frühere Erregung.

Erregung
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