Polianders Zeitreisen

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Schreibschrift perdu? Poliander erschreckend nostalgisch.

24.08.2010 · poliander

Polianders Sonntagsvergnügen und meines: die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, die aus Papier natürlich, in unserer tiefbürgerlichen Straße oft zeitig ausverkauft, weswegen der Zeitungsmann schon gegen 9 in Räuberzivil oder sogar Schlafanzug (kaschiert durch jahreszeitlich passende Überwürfe) aufgesucht wird, um beim Kaffee genüsslich einander die Herzblattgeschichten vorlesen zu können oder das Neueste aus Natur und Wissenschaft. Doch letzten Sonntag wurde die Milch im Kaffee sauer:  “Schreibschrift adé” drohte die Überschrift, im Text wurde das baldige Ende des Schreibens in Schreibschrift  prophezeit. Kinder sollen nicht mehr “schönschreiben” lernen, das heißt: keine verbundene, leicht geneigte Schrift, die später die Grundlage einer individuellen charaktervollen Handschrift wird. Es bereite Kindern “Frust” und “koste Zeit”, eine solche Schrift zu erlernen, meint der in unserem Sonntagslieblingsblatt zitierte Grundschulverband. Angemessener und ausreichender Ersatz sei die “Grundschrift”, eine handgeschriebene Schrift, die an gerade stehende Druckbuchstaben angelehnt ist und manchmal ein kleines Häkchen rechts unten haben darf, ein ideologisches Schwänzchen für unverbesserliche Grundschüler, denen der lockere Schwung nicht auszutreiben ist. Und darüber hinaus seien ergonomische Tastaturen gefragt.

Für alle, die noch schönes Schreiben lieben, hier ein paar Links:

Schulausgangsschrift, geschaffen von Renate Tost, Elisabeth Kaestner und dem berühmten Kalligraphen Albert Kapr
Lateinische Ausgangsschrift
Vereinfachte Ausgangsschrift

Und leider ohne Link: Schulschrift kursiv, eine Schrift, die alle, die in den 1960er Jahren in der DDR zur Schule gingen, im Zeichenunterricht erlernten, zu schreiben mit einer Atofeder. Es machte Lehrerinnen und Kindern Arbeit, kostete Zeit, und der Umgang mit der raffiniert angeschrägten Feder war frustrierend, so lange man ihn  nicht beherrschte.

Die erste Übung beim Schreibenlernen waren übrigens “Dachziegel”, ganze Hefte voll Dachziegelumrisse (Rundschnitt-Doppeldeckung) wurden geschrieben.  Und dann jeder einzelne Buchstabe mit seinen “Häkchen”, “Anfassern” und freien oder gemessenen Schwüngen. Wegen all dieser Mühe, bei der wir uns auf nichts als nur das Lesen und Schreiben von Buchstaben konzentrierten, die Buchstaben unser Sinnen und Trachten waren und eine Welt aus Buchstaben entstand, beherrschten alle Kinder nach einem halben Jahr Unterricht alle Buchstaben des Alphabets, auch die, die vorher keinen einzigen gekannt hatten. Der Weg war frei, Zettelchen zu schreiben und wahlweise unter der Bank durchzureichen oder zu einem Flieger zu falten und bei gutem Glück unbemerkt von der Schönschreiblehrerin über Reihen hinweg der besten Freundin zuzusenden. Ob demnächst die Drucker rattern, um ein gekritzeltes “Willst du mit mir gehen? Ja Nein Vielleicht” auszuwerfen?

Das ist nicht euer Ernst, Grundschullehrerinnen! Schaut in eure Küchen und Handwerkerinnenkästen! Habt Ihr beim Erwerb einer Brotschneidemaschine das handliche Messer entsorgt? Und habt Ihr den Fuchsschwanz weggeschmissen, seit die Kettensäge erfunden ist?

Koordinaten: FAS vom 22. August 2010. Polytechnische Oberschule Bad Klosterlausnitz im Jahr 1967

Ausgrabung
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