Polianders Zeitreisen

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Auf tiefen Abhängen mit Vergil

27.07.2011 · poliander

Dante Alighieri

Dante Alighieri

“Ich kann nicht mehr sagen, wie ich dort hineingelangte; so voll Schlaf war ich zu jener Zeit, dass ich vom wahren Wege abkam.”
In den Wald zu gehen war, buchstäblich wie metaphorisch, kein Spaß vor 700 Jahren. Und erst hineingeraten!, was gleichbedeutend ist mit dem Abkommen vom rechten Weg, metaphorisch wie buchstäblich. Ein gesuchtes Abenteuer ist es nicht, dass Dante, der Dichter, sich dorthin begibt,  auch kein Zufall. Wilde Tiere locken sein Auge, dann verstellen sie, Pardeltier,  Löwe und Wölfin, ihm den Weg, “es war die Zeit beim Anbruch des Morgens, und die Sonne stieg auf in den Sternen, die mit ihr waren”, und so gerät er noch tiefer hinein, dorthin, “wo die Sonne schweigt”.  Den, der ihm begegnet, erkennt er als den Dichter Vergil. Und obwohl der ausruft: “Warum willst du zurück zu solcher Qual? Warum steigst du nicht den angenehmen Berg hinauf, der doch Anfang und Grund aller Freude ist?”, leitet Vergil, Reise- wie Seelenführer, ihn nicht etwa aus dem Wald hinaus, sondern an den Ort, von dem kaum wer zurückkehrt. Kaum wer, nicht niemand. Wanderschaft ist kein Zeitvertreib, und wer in den Krater der Hölle steigt, tut dies nie ohne guten, tiefen Grund.

Dantes Reise ist Schilderung einer (gut mittelalterlichen) Visio, politischer Lagebericht, historischer Kurs und Extrembergsteigen in einem. Was er beobachtet, zeichnet er getreu auf, jedes Gespräch mit Vergil, jede Konversation mit einem der einst Lasterhaften, die im Inferno ganz leibhaftig büßen, aber auch die eigene Schwäche und Müdigkeit, die ihn angesichts der Schrecken befällt, die Furcht, wenn es zuweilen selbst festes Handanlegen der Teufel braucht, damit Vergil und er im unwegsamen Gelände vorankommen. Denn die Höllenbewohner nehmen Kontakt auf. Dass Vergil einen Lebenden durchs Inferno leitet, begreifen sie schnell und wüten darüber: “Komm du allein, und der soll abhauen, der so frech hier eingedrungen ist. Der ist doch wohl verrückt! Alleine soll er zurücklaufen! Soll er doch sehen, wie er’s schafft! Und du bleibst hier, was hast du den auch herumzuführen durch die finstere Gegend!” Von Schaulustigen halten sie nichts.

Und doch vollbringt Dante mit Hilfe Vergils seine Reise durch den Wald der Verdammten, die ihm in vielerlei Gestalt, so auch in der von Gestrüpp und Gesträuch begegnen. Als er einen Zweig abbricht, beginnt der Strauch zu ihm zu reden: “Wir waren doch Menschen, und jetzt sind wir Gestrüpp! Selbst wenn wir Natternseelen wären, hätte deinen Hand noch rücksichtsvoller sein müssen.” Und das ist erst der Anfang. Dantes Weg durch die Gräben und über die Schotterhänge der Hölle, sein Gespräch mit jenen, die in Feuer verwandelt sind und brennen, sein Geleit, das Kentauren und selbst zankende Teufel ihm gewähren, weil Vergil sie davon überzeugt oder sie zwingt, also diesen Weg des Dichters zu verfolgen, ist so schrecklich wie spannend und, in manchen Gesängen, stehen der Leserin, dem Leser die Bilder klar und krude wie in einem Comic vor Augen. Denn in der Hölle gelten die Gesetze des contrapasso oder Kontrapassum, so dass die Lasterhaften je auf eine Art gestraft sind, die ihr Laster spiegelt. Eine fürchterliche Gerechtigkeit ist das, und doch fühlen wir, ganz wie die beiden Wanderer teils Zorn, teils Mitleid. Von Fall zu Fall und Aufstieg zu Aufstieg, und wenn am Ende Vergil und Dante Luzifer selbst durch den Pelz kriechen und Dante, sich umwendend, Teufel wie Hölle plötzlich in Verkehrung sieht, bleibt auch uns der Atem aus.

Und das liegt an der schönen, nie zu hoch tönenden Prosaübersetzung von Hartmut Köhler. Poliander ist berückt. P. und P.s Gefährtin empfehlen allen, dieser guten Geschichte auf ihren abschüssigen Wegen zu folgen.

Koordinaten: Dante Alighieri, Inferno/Hölle. Italienisch/deutsch. Übersetzt und kommentiert von Hartmut Köhler. Stuttgart: Reclam 2010.

Reisebrief
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