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Kranz oder Krone (73) – gehen, gegangen sein, gehen

05.05.2021 · poliander

Einer der schönsten, traurigsten, tröstlichsten Orte Berlins liegt außerhalb, südwestlich der Stadt. Das ist der Südwestkirchhof Stahnsdorf.

Dort geht P. gern, wenn der Waldboden mit Frühlingsblumen bedeckt ist, mit Veilchen, blühendem Immergrün, dazwischen die kleinen duftenden Mahoniensträucher. Da ist ein Weg.

Als die evangelischen Kirchgemeinden des Berliner Synodalverbandes 1909 den Südwestkirchhof einrichteten, sollte er vor allem für den Südwesten Berlins dienen. Das war vor dem Groß-Berlin-Gesetz von 1920 nicht genau die Gegend, an die wir heute denken, wenn wir Süd-West-Berlin sagen. Doch auch in den damaligen Grenzen war die Stadt im 19. Jahrhundert gewaltig gewachsen, und sie war noch lange nicht am Ende. Darum sollten Stahnsdorfer Äcker, teilweise bewaldet, zu einem großen Gottesacker werden. Eine S-Bahn wurde gebaut und führte seit 1913 von Wannsee aus durch die Parforceheide direkt nach Stahnsdorf. Die Berliner Schnauze, um eine treffende Bezeichnung nie verlegen, nannte diese Verbindung schon bald Leichen- oder Witwenbahn.

Schon 1908 bis 1911 wurde die hölzerne Kapelle gebaut, deren Entwurf an norwegische Stabkirchen erinnert, Jugendstil in einer Art, die man selten sieht. Der schlichte Innenraum, schattig, nicht düster ruft Erinnerung und Gefühl, lässt sie auch wieder gehn. Ein Ort für Abschiede, eine tröstende Höhle für Gläubige, Zweifelnde und Ungläubige.

Es ist soviel Raum hier, dass der Blick Bilder auch von weitem empfängt. Es ist so viel Wald hier, dass man bisweilen den Zweck des Ortes vergisst. Und die Zeit. Denn es ist soviel Zeit hier.

Das liegt nicht nur am schönen alten Baumbestand, es liegt nicht nur an den Gräbern, die aus vielen Jahrzehnten stammen. Es liegt auch an den größenwahnsinnigen Plänen aus der Zeit, da der NS-Generalbauinspektor Albert Speer Berlin zu einer Stadt umzuformen begann, die “Germania” heißen sollte. Große Teile mehrerer innerstädtischer Friedhöfe mussten weichen, alte Begräbnisse wurden nach Stahnsdorf verbracht. So findet man heute viele Gräber, die älter sind als der Friedhof selbst. Und noch einmal blieb die Zeit stehen: 1949 wurden die sterblichen Überreste aus den Grüften vornehmlich preußischer Militärs aus der zerstörten Garnisonkirche in Berlin-Mitte nach Stahnsdorf gebracht. Dies geschah auf Entscheid der sowjetischen Militäradministration.

Obwohl der Stahnsdorfer Südwestfriedhof in Gebrauch blieb, konnte man ihn aus West-Berlin nach den Ereignissen des 17. Junis 1953 nur noch mit einem Passierschein besuchen. Noch verkehrte die Bahn. Zwar hatten Soldaten der Wehrmacht in den letzten Tagen des zweiten Weltkriegs die Brücke über den Teltowkanal zerstört, doch sie wurde wieder aufgebaut. 1961, mit dem Mauerbau aber endete auch der S-Bahn-Verkehr. Die Herren, die sich sozialistisch nannten und glaubten, die Grenze hielte ewig, ließen den Bahnhof verfallen und ihn 1976 sprengen. Nur die Bahnhofstraße blieb, in der heute der 622er Bus hält, der von Krumme Lanke über Kleinmachnow nach Stahnsdorf schwankt. Gab es nach 1961 noch gelegentliche Bestattungen, verlor der Friedhof gleichwohl an Bedeutung, denn von seinem eigentlichen Einzugsgebiet trennte ihn die Grenze. Der Denkmalschutz, den die DDR-Behörden 1982 für den historisch bedeutsamen Ort beschlossen, verhinderte nicht den Verfall, immerhin den Abriss oder Rückbau von Gräbern. In der Stille des Friedhofs überlebten Pflanzen und Tiere, Flechten überzogen viele Gräber mit einem unwirklich leuchtenden Gelbgrün.

Doch wie alle von Menschen geschaffenen Verhältnisse verging auch die Isolation des Südwestkirchhofs. Die Stille blieb. Sie blieb, obwohl hier viele Vögel singen, obwohl die Geräusche der Autobahn herangetragen werden, obwohl an sonnigen Tagen zahlreiche Spaziergänger!nnen vorbeischauen.

Weite Teile dieses stillen Orts hat die Natur übernommen, aber die Erinnerung bleibt gegenwärtig. P. ist dankbar für das eine wie das andere.

Koordinaten: 52° 23′ 20” N, 13° 10′ 50” O. Südwestkirchhof Stahnsdorf. Wikipedia-Eintrag.
Begleitung: Jessye Norman singt Oft denk ich (Gustav Mahler)
Covid-Zahlen: 3.433.516 (Zahl laut täglichem Lagebericht des Robert-Koch-Instituts vom 4. Mai 2021). Genesene: ca. 3.061.500 (vom RKI geschätzter Wert zum gleichen Datum). Einmal geimpft: 23.852.426, zweimal geimpft: 6.771.476 (beide Zahlen ebenfalls laut dem Lagebericht vom 4. Mai 2021).

Kranz oder Krone
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