Worauf willst du warten? Das fragt der graue Himmel.
Worauf willst du warten? Das fragen dich die Bücher in den Regalen.
Worauf willst du warten? Das fragen die Augen der lange nicht Umarmten.
Gestern schrieb P.: … finde ich, dass die meisten Menschen trotz der Belastung ziemlich vernünftig mit der Situation umgehen und sich bemühen, es den anderen nicht noch schwerer zu machen.
Dann kamen die Handwerker. Hinterher hat P. gelüftet und die Klinken desinfiziert. Es roch wie im Schwimmbad.
Die Handwerker haben es jetzt auch nicht leicht. Aber die Handwerker könnten es leichter haben. Sie klingeln Sturm und hämmern mit der Faust gegen die Tür, als wären sie die Polizei und P. wäre stark verdächtig. Die Handwerker sind auf Krawall gebürstet, zack! steht die Leiter in P.s Arbeitszimmer, wo es für sie nichts zu tun gibt. Die Mieter in Berlin, sagen die Handwerker, sind schwierig. Die Handwerker könnten es sich leichter machen. P. sagt es ihnen nicht.
Die Handwerker haben sich in P.s Gedanken vorgedrängt. Denn in Wahrheit ist es ein guter Tag. P.s Gedanken sind, eigentlich und auch gleich wieder, am Rand unterwegs, am Rand des Jahres, zwischen Hexenneujahr und Epiphanias, also von November über Advent und durch die zwölf Nächte bis zum Tag der drei heiligen Weisen. Das ist eine Zeit, in der Gesagtes an Unausgesprochenes grenzt. Da kommen die Gedanken vom Ungesagten zum Gesagten und wieder zurück, vom Hölzchen aufs Stöckchen, von Alpha nach Omega aber auch.
Konzentriere dich. Worauf wartest du? Konzentriere dich, schweife umher.
Gottfried Keller schrieb von den Augen als lieben Fensterlein. P. schaut am Fenster, dem äußersten Rand des Büros. Der Himmel ist grau. Kein buntes Grau, das, wie P. gelernt hat, aus Farben gemischt wird. Das Auge, die nimmermüde Kamera, begegnet Kellers Zaubermetapher im Spiegel aus Fensterglas, und durch den schaut P. hindurch und hinüber. Die Fenster dort drüben sind die Äuglein des Hauses, und weit aufgerissen jeden Morgen eine Tür zum Balkon.
Advent: Lichter, die allabendlich erscheinen, elektrisch beleuchtete Sterne und Rentiere aus leuchtendem Schlauch. Im Tageslicht erscheint eine Ringelblume neben ihrer älteren Schwester, dem vertrockneten Stern. An den Rändern des Jahres erscheinen die immergrünen Zweige des Rosmarins, die letzten und die ersten Blüten, an den Rändern des Jahres wärmt P. die Balkonflora zwischen Zweigen aus Tannengrün, die Nädelchen trocknen dem Frühling entgegen.
Advent, worauf willst du warten?
Zumutungen tangieren P. am Rande, in Wahrheit hat Kolleginnenpost Vorrang, Kolleginnenvideo lädt ein zu einem Rundblick an den Rändern. An den Rändern begegnen P. Gedichte, Bilder, Gebilde. Viel Abstand macht viele Ränder. P. schweift, findet, verliert, verliert und findet, viel großes Ziel hilft selten beim Finden. „An den Rändern“, wie treffend sind die Blicke, die Wörter für dieses Jahr.
Freund!nnenmail, Kolleginnenpost, Zeichen der Nachbar!nnen an die Türe gehängt, ein Stück vom Kuchen mit langem Arm übergeben.
P.: Umarmungen, worauf wartet ihr?
Umarmungen: Wir warten noch.
Der trockene Stern der Calendula, diese nicht überraschende Metapher, besteht leibhaftig aus den bezackten und spiraligen Rundbögen der Samen. Worauf warten? *** P. weiß es wieder.
Koordinaten1: 10. Dezember. Advent 2020. Quelle und Antwort nach dem Mehr-Link.
Koordinaten 2: In dem empfohlenen Video liest Undine Materni Gedichte von Lars Gustafsson, Franz Hodjak und Ragnar Helgi Ólafsson in einer Ausstellung von Stefan Voigt in der Stadtgalerie Radebeul.
Koordinaten 3: 1.242.203 (Zahl laut Robert-Koch-Institut vom 10. Dezember 2020, 0 Uhr, online aktualisiert 8.25 Uhr). Genesene: ca.902.100 (vom RKI geschätzter Wert laut Lagebericht vom 9. Dezember 2020)
Quelle
Gottfried Keller:
Abendlied
Augen, meine lieben Fensterlein,
Gebt mir schon so lange holden Schein,
Lasset freundlich Bild um Bild herein:
Einmal werdet ihr verdunkelt sein!
Fallen einst die müden Lider zu,
Löscht ihr aus, dann hat die Seele Ruh’,
Tastend streift sie ab die Wanderschuh’,
Legt sich auch in ihre finstre Truh’.
Noch zwei Fünklein sieht sie glimmend stehn
Wie zwei Sternlein, innerlich zu sehn,
Bis sie schwanken und dann auch vergehn,
Wie von eines Falters Flügelwehn.
Doch noch wandl’ ich auf dem Abendfeld,
Nur dem sinkenden Gestirn gesellt;
Trinkt, O Augen, was die Wimper hält,
Von dem goldnen Überfluss der Welt!
Antwort
Elke Erb:
Trinkt, oh Augen, was die Wimper hält
Auf Frauen, die älter sind als ich, nur fünf, sechs Jahre älter schon, fast in meinem Alter, blicke ich, wie ich entdecke, als sollte mir ihre Verwitterung (das verschwundene Reh) reden von Weltfahrt, -erfahrung, nach ihrer Rückkehr. Auf Frauen in dem gegenüberliegenden Alter der Jugend blicke ich, über ihr Rehbild hinweg, als hätten sie eine gelungene Weltfahrt vor.
Publiziert in: Weibblick, Heft 5, 1999 im Gespräch mit Ulrike Gramann, nachzulesen hier.