Am Sonntag bleiben P.s Gedanken privat.
Dies sind die Gedanken von Freitag:
Das nächtliche Geräusch des Regens, der fällt, herunterströmt, rauscht, aber nicht rieselt. Vielleicht rieselte er auch, zwischendurch, aber das hätte P. im Zimmer nicht hören können.
Auf dem Weg später trifft P. eine gehbehinderte Frau mit ihrem Rollator. An der Tür der seit vielen Wochen geschlossenen Post hat sie soeben den lapidaren Aushang gelesen. Es gibt technische Störungen, deren Lösung auf unbestimmte Zeit vertagt wurde. Corona, scheint ihr, ist eine Ausrede. P. scheint das nicht nur so. Denn die Filiale war auch schon vor dem Down geschlossen. Wo ist die nächste Post? Und wie kommt die Frau da hin? P. erklärt es, zeigt, wo der Bus abfährt. Die Frau will nicht fahren, sie will laufen, egal ob es lange dauert. Wer verstünde das nicht. Der Bürgersteig ist schmal und dazu von einem Radweg belegt. Die Frau fürchtet entgegenkommende, ungeduldige Radfahrer!nnen. Es gibt einen zweiten Fußweg, dort hinter den Sträuchern, breit genug, nicht asphaltiert, fast ein Spazierweg. Aber die Frau kommt schon hier schlecht voran, wo auf dem Beton die heruntergeregneten Blätter und Blüten liegen. Wütend stößt sie den Rollator in den Mulm. Wenn sie gewusst hätte, wie das hier ist, wäre sie nie hierher gezogen. Aber es ist schön hier. „Nicht, wenn es geregnet hat!“ Ärger dringt durch die feuchte Morgenluft. Es gibt keine dritte Lösung: der mühsame Gang auf einem der auf unterschiedliche Art ungeeigneten Wege oder der Bus.
Die Welt dreht weiter. Die Postfiliale bleibt zu.
Auf dem Balkon hängt eine Hummel an einer Ringelblüte und schläft. Ungerührt, ungestört. Andere Hummeln kommen vorbei, und das Geräusch ihres hochfrequenten Flügelschlags stört sie nicht.
Die Welt dreht weiter. Eine Hummel schläft.
Ach, Gelassenheit.
Poliander denkt, am Freitag – erinnern Sie sich? Das sind die Gedanken von Freitag – an die Lesung von Sonnabend. Sie darf den Wecker nicht vergessen. Sie wird Freundinnen wiedersehen, sie wird eine andere Stadt wiedersehen. Es wird Überraschungen geben, der Zug wird einen anderen Weg fahren, plötzlich durch den Bahnhof Leipzig Messe rollen, langsam, ohne Halt, es wird dauern. Es wird regnen, wenn sie ankommt. P. wird mit der Freundin über einem Fluss stehen, hoch oben. Das wird erst schön und dann besonders schön gewesen sein. Später Stimmengewirr, Winzerschoppen, nächtliche Vogelstimmen, später wird zu früher werden, allein aus einem Fenster schauen in der Nacht und Morgenlicht im Osten über einem Höhenzug jenseits des Flusses.
Heute ist Sonntag. P. ist zurück. Frühzug, beinahe über Lektüre den Ausstieg versäumt. Zeitung, Kaffee, frische Croissants, Pfingstrosen und Wicken. Auf dem Balkon hängt eine Hummel an der Ringelblüte. Sie bewegt sich im Schlaf.
P. hat den Wecker nicht vergessen.
Soundtrack: Kate Bush, Mrs. Bartolozzi
Koordinaten von heute: 183.979 (Zahl laut Robert-Koch-Institut vom 7. Juni 2020, 0 Uhr, online aktualisiert 8 Uhr). Genesene: 169.100 (vom RKI geschätzte Zahl laut Lagebericht vom 7. Juni 2020)