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Kranz oder Krone (45) – erster Mai im Office

01.05.2020 · poliander

“Heraus zum 1. Mai”, ruft der Morgen, und P.s Füße laufen von allein. Zum Park.

Der Park ist keineswegs in ein Meer von roten Fahnen enthüllt. Die einzige revolutionäre Veränderung besteht vielmehr darin, dass das rotweiße Absperrband am Spielplatz entfernt wurde.

Die einzigen Fähnchen, die winken, sind die in der Nacht weiter beregneten Blätter der Linden. Der Bäckerladen hat überraschend (Kenner- und Kritker!nnen des Kapitalismus sagen: keineswegs überraschend) geöffnet. Am Kampf- und Feiertag der Arbeiterklasse kauft P. vier frische Dinkelbrötchen von einer Verkäuferin, die nicht nur heute vormittag im Laden steht, sondern dafür auch eine Fahrt von einer ganzen Stunde in Kauf nimmt, um arbeiten zu dürfen. (Ist es moralisch gerechtfertigt, dass P. diese Brötchen kauft? Ja, denn die Verkäuferin muss heute sowieso da sein, und wenn sie dann nicht einmal die frische Ware verkauft, würde sie zusätzlich demoralisiert durch die unsinnig gewordenen Anreise quer durch Berlin.)

In Berlin herrscht weiterhin Demonstrationsverbot. Erst ab dem 4. Mai dürfen sich wieder bis zu 50 Menschen unter freiem Himmel versammeln. Warum nicht ab heute? Weil heute der 1. Mai ist. Was bedeuten drei Tage für den Schutz der betagten Risikogruppe? Würde diese tatsächlich massenhaft zur revolutionären 1.-Mai-Demo nach Kreuzberg aufbrechen? Corona hin oder her: Was ist am 4. Mai anders als am 1.?

Liebe Leserin, lieber Leser, bitte bilden Sie sich ihre Meinung dazu unabhängig davon, ob Sie zur Risikogruppe gehören, und ganz besonders unabhängig davon, ob Sie planten, heute dort hinzugehen.

Abbildung: keine roten Fahnen in Berlin

P., die in früheren Jahren mit dem Liedgut der Arbeiterklasse zwangsweise vertraut gemacht wurde, sowie der anders sozialisierte Gefährte, der nicht textsicher ist, singen, in den Arbeitszimmern vereint, den Text auf dem Monitor vor sich, die Internationale, die martialische Wahl der Metaphern nicht ignorierend. Traditionell gemischte Gefühle. Anschließend hören sie Ernst Busch, der vom Mohn singt, der wieder blüht im Jaramatal, mit tausendmal ehrlich durchglühtem Herzen. Vielleicht ein bisschen kitschig, aber nicht zum Lachen.

Der Tag des Grundgesetzes ist am 23. Mai. Was wird am 23. Mai anders sein als heute?

Disclaimer für alle, die gern missverstehen: Bitte halten Sie Abstand!

Koordinaten 1: 160.758 (Zahl laut Robert-Koch-Institut vom 1. Mai 2020, 0 Uhr, online aktualisiert 9:10 Uhr), Genesene: 123.500 (vom RKI geschätzte Zahl laut Lagebericht vom 30. April 2020)
Koordinaten 2: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland.
Koordinaten 3: Die Internationale, Am Rio Jarama (Ernst Busch).

Kranz oder Krone
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