Nietzsche: Er war ein Freigänger. Bis sie ihn kriegten. So jedenfalls nahmen P. und der Gefährte an, denn eines Tages wurden die Steckbriefe, mit denen sie ihn suchten, nicht mehr erneuert. Vorgeschichte und Geschichte in einem finden Sie hier.
Vor zweieinhalb Jahren verschwand Nietzsche wieder aus dem Fokus der kiezinternen Öffentlichkeit. Vielleicht verschwand er auch nur aus ihrem Bewusstsein, so wie John Densmore – wir erinnern an sein Diktum, Nietzsche habe Jim Morrison getötet – weitgehend aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit geschwunden ist, das sich statt seiner vor allem des verstorbenen Jim Morrison erinnert.
Unaufgeklärt blieb, wie der im Dezember 2017 nach Angaben der Fahndung dreijährige Nietzsche, ein starkes männliches Tier ohne ein weißes Härlein am Leibe, mit dem Tod Jim Morrisons im Jahre 1971 in Verbindung gebracht werden konnte.
Wurde Nietzsche von Densmore zu Unrecht beschuldigt?
Wurde Nietzsche nach seiner mutmaßlichen Auffindung von den Fahndern zu Unrecht vom Freigänger zum Hausarrestanten degradiert?
Wurde Nietzsche damals überhaupt gefangengesetzt?
Tatsache ist, dass P. bei ihren wiederholten Spaziergängen seither zu jeder Jahreszeit einem starken schwarzen Kater begegnete, der dem damals gesichteten Nietzsche aufs Haar glich.
Fragen über Fragen:
Wer ist das?
Und wenn Nietzsche, wurde er damals gar nicht wie von P. angenommen, gefasst, sondern blieb er auf freier Pfote?
Und wenn Nietzsche, ist er also in Wahrheit längst kein Freigänger mehr, sondern – hier teilen sich die Interpretationen – ein in seiner Selbstsicht freier Kater, in behördlicher Sicht ein Streuner?
Wer ist Nietzsche heute aus Sicht seiner einstigen Herr!nnen, die damals – wegen Erfolgs oder wegen Erfolgslosigkeit? – die Suche aufgaben?
Soundtrack und Zwischenspiel: In A Silent Way – Miles Davis.
Nun, im April 2020, tauchen erneut auf den mutmaßlichen Nietzsche bezogene Aushänge auf. Die Beschreibung des in der Bi.er Straße mehrfach Gesichteten deckt sich weitgehend mit der Beschreibung des vormals Gesuchten: stark, schwarz, männlich, offenbar herrschaftsfrei lebend. Allerdings wird er vom Verfasser der Aushänge als “zweijährig” beschrieben. Zudem: Er bettele vor den Türen der Bewohner!nnen der Bi.er Straße um Nahrung und begehre Einlass.
P. beobachtet das fragliche Tier nach wie vor und nicht nur in der Bi.er Straße. Gelegentlich benimmt es sich beinahe wie der Fuchs und wäre im Vorüberschnüren in mondlosen Nächten fast mit ihm zu verwechseln, freilich nur, solange der Schwanz im Dunkeln der Geschichte bleibt.
Diese teilt sich wiederum:
Wurde Nietzsche damals zwar gefangengenommen, jedoch erst, nachdem ihm in Freiheit noch die Zeugung eines Abkömmlings gelang? Oder blieb er in Freiheit, ohne sich zu seiner Nachkommenschaft zu bekennen? (P. wurde nie einer Familie schwarz behaarter Feliden ansichtig.) Wer ist das Muttertier? Wer ist Nietzsches Sohn, und wo wuchs er auf? Warum gelingt ihm die Freiheit nicht? Liegt es an der übermächtigen Person des an-/abwesenden Vaters? (P. erinnert an dieser Stelle an das historische Beispiel des unglücklichen August von Goethe.)
Eine andere, von P. präferierte Interpretation des Geschehens ist jedoch, dass die jetzt nach Nietzsches Familie oder Herrschaft Ausschau Haltenden das Alter des Tieres verkennen, das in Freiheit womöglich in einen früheren Habitus zurückgekehrt ist. Gewissermaßen eine Rückkehr zur Pubertät, wie sie bei Individuen, die sich fernab jeder Gesellschaft halten oder sogar in ungute Gesellschaft geraten, nur allzu häufig ist. Kam Nietzsche nicht klar mit der Freiheit? Ist er ein verlorener Sohn, der den Weg nach Hause nicht mehr wagt, womöglich nicht mehr findet? Fehlt ihm Halt, Orientierung, womöglich, man wagt es nicht zu denken: Herrschaft?
Nicht zuletzt: Wer tötete das Singvögelchen, das auf dem Bürgersteig lag? Und wohin verschwand der kleine Körper?
Und ganz zuletzt: Was bedeutet diese Geschichte für uns, die wir sie nur als Zaungäst!nnen miterleben?
Koordinaten: 133.830 (Zahl laut RKI vom Zeitpunkt 17. April 2020, 0 Uhr, online aktualisiert um 8 Uhr), Genesene : 77.000 (vom RKI geschätzte Zahl laut Lagebericht vom 16. April 2020)