Polianders Zeitreisen

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Ich sah Nietzsche nur einmal

02.12.2017 · poliander

Eines Tages hing der Zettel an der Laterne, schief hinter einen Kabelbinder geklemmt: Er, stand da, sei verschwunden, um Mithilfe werde gebeten. Hatten wir ihn gesehen? Freigänger sei er, stand zu lesen, komme und gehe und komme zurück. Nie sei er fortgeblieben bisher. Wir, die die Straße passierten, möchten in unseren Garagen schauen und in den Kellern, ob er wohl versehentlich eingesperrt worden sei.

Einer wie er, der käme tagelang aus ohne Nahrung und Wasser. Kein weißes Härlein trüg er am Körper. Er höre auf den Namen Nietzsche.

Dazu Telefonnummern von Leuten, die nicht ganz um die Ecke wohnten.

Tagelang geschah nichts.

Am Freitag gingen wir (wir: der Gefährte und P.), in die Schenke am B.-Platz, deren Name einen jener Renaissanceheroen zitierte, dessen glasklar scheinende Fresken auf den Flächen eines berühmten Stichkappengewölbes wir so liebten. Unterm kalten Licht der Autoscheinwerfer schlüpften wir in den warmen Dunst des Lokals. Brot, Öl, Wein, Gaben der Götter, die aus antiker Landwirtschaft zu uns in den Norden gekommen sind. Gespräche über Eisen, Gespräche über Papier, Gespräche über Geld und Ästhetik. Als wir den Laden verließen, im Nacken wohlwollende Worte in einer Sprache, die wir kaum verstanden, wendete P. sich nach links am Ausgang. Es gab einen neuen Aushang:

Noch immer werde er, Nietzsche, vermisst, nun eine Woche schon. Dem ehrlichen Finder, stand zu lesen, auch dem, der Hinweise gäbe, die zu Nietzsches Wiederaufbringung führten, böte man 500 Euro. Oh brächte nur jemand Nietzsche zurück! Hier die Telefonnummern, anzurufen bei Tag und Nacht. Man hoffte auf ein Wunder. Sein Tod, immerhin, wurde nicht erwogen. Niesel stäubte von der Autobahnbrücke.

Am Sonntag machten wir einen langen Spaziergang durch die Parks unserer Gegend. Der Himmel war hell, und als wir umgedreht hatten und im Abendlicht unserer Zeile zu strebten, da tauchte er plötzlich in den Vorgärten auf. Das Haar von Kühle gesträubt strich er vorbei, ein dicker Dreijähriger. Er machte nicht den Eindruck, tagelang ohne Nahrung und Wasser ausgekommen zu sein.

“Nietzsche! Nietzsche!”, rief ich. Nietzsche hörte nicht auf seinen Namen. P.s Stimme war ihm fremd.

Schnell, der Gefährte zog das Taschentelefon, ich las laut die Nummer von der Staßenlaterne ab. “Welche Straße”, fragte die Frau am anderen Ende. Wir sagten es ihr. Es klickte im Hörer.

Ich sah ihn nicht wieder. Doch der Zettel hing weiter an der Laterne. In der Mitte der Folgewoche lief ich in Richtung des R.-Platzes, um Besorgungen zu machen. Vor einer Schule der dritte Aushang, der nun die Herausgabe Nietzsches in kräftigeren Worten forderte. In jener Pizzeria und Schenke, so las ich, sei Nietzsche, “aus Mitleid wohl”, mit Nahrung und Wasser versorgt worden. (Es hatte ihn also an einen Ort arkadischer Freiheit gezogen. Rätselhaft blieb, warum er nicht ein wenig weiter gegangen war zum Estiatorion Dionysos.) Ein Gast jedenfalls, las ich, habe ihn mitgenommen. Jener Mann, man sei ihm dankbar, werde dringlich um die Rückgabe des Klassikers gebeten und reich belohnt. Auch Siegfried, Nietzsches Bruder, vermisse ihn sehr und klage. Dann wechselte der Ton: Sollte der Finder dem Aufruf nicht folgen, werde man nicht zögern, Anzeige gegen ihn zu erstatten.

Ich war sehr nachdenklich. Die Beobachtung der feuchtigkeitsdicht eingeschweißten Bekanntmachungen an den Straßenlampen ergab tagelang nichts. Eine Woche lief ab. In einem Radiofeature hörte ich, dass John Densmore gesagt haben sollte, Nietzsche habe Jim Morrison getötet. An einem kalten Morgen, dem ersten, an dem Minusgrade gemessen wurden in diesem Herbst, waren die Aushänge schlagartig alle verschwunden.

They got him.

Nietzsche ist kein Freigänger mehr.

Wer recht genau sich selber prüfen will, wie sehr er dem wahren aesthetischen Zuhörer verwandt ist oder zur Gemeinschaft der sokratisch-kritischen Menschen gehört, der mag sich nur aufrichtig nach der Empfindung fragen, mit der er das auf der Bühne dargestellte Wunder empfängt: ob er etwa dabei seinen historischen, auf strenge psychologische Causalität gerichteten Sinn beleidigt fühlt, ob er mit einer wohlwollenden Concession gleichsam das Wunder als ein der Kindheit verständliches, ihm entfremdetes Phänomen zulässt oder ob er irgend etwas Anderes dabei erleidet. Daran nämlich wird er messen können, wie weit er überhaupt befähigt ist, den Mythus, das zusammengezogene Weltbild, zu verstehen, der, als Abbreviatur der Erscheinung, das Wunder nicht entbehren kann. (Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik)

Koordinaten: 52° 28′ 1” N, 13° 18′ 32” O

Erregung
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