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Kranz oder Krone (3) – Lektüren im Homeoffice

20.03.2020 · poliander

Schnell noch ein Buch kaufen, dachte P. am Freitag, dem 13. März, und verbrachte fast eine halbe Stunde in der Buchhandlung. Die Annahme, es sei dort ohnehin nichts los, war irrig: Ging ein Kunde raus, kam eine Kundin rein. Schließlich nahm P. ein dünnes Buch, Friedrich Ani, Der Narr und seine Maschine, und dachte schon im Gehn: Hätt ich doch nur ein dickes Buch genommen. Vor dem Bücherregal zu Hause beruhigte P. sich wieder.

Am Montag, dem 16. März, zog P. aus dem Bücherregal, Abteil für Taschenbücher: Albert Camus, Die Pest, Reclams Universal-Bibliothek Band 577, 1984 erschienen in 3. Auflage bei Philipp Reclam jun. Leipzig. Seitdem liegt Camus auf dem kleinen Notizbuchstapel, der sich auf P.s Schreibtisch angesammelt hat. P. hat das Buch geöffnet und den Arzt Bernard Rieux mit den Augen begrüßt, der am Morgen des 16. April 194* aus seiner Wohnung trat und im Hausflur über eine tote Ratte stolperte. Und dann hat P. das Buch wieder zugeklappt.

Lektüre im Kopf: Es ist ein Buch über einen Arzt und einen Schriftsteller, über die Pest, sicherlich, eine von Camus erfundene Pest. Und jetzt schlägt P. das Buch doch noch einmal auf und liest den Schluss, nur undeutlich erinnert, jetzt wieder ganz klar. Und mitten in diesem gut erdachten, wundervoll konstruierten und wahrhaftigen Schluss die Worte des alten Asthmatikers: “Die anderen sagen, ‘es ist die Pest, wir haben die Pest gehabt’, und wenig fehlt, und sie würden einen Orden verlangen. Aber was heißt das schon, die Pest? Es ist das Leben, sonst nichts.”
(Und Rieux antwortet:) “Machen Sie regelmäßig Ihre Dämpfe.”
(Und wieder der Asthmatiker:) “Oh! Sie brauchen keine Angst zu haben. Ich halte es noch lange aus und werde sie alle sterben sehen. Ich verstehe es zu leben, ich.”

Zu leben verstehen, sei vielleicht gerade eine Übung geworden, dachte P. Aber zu lesen, dachte P., das Lesen zu verstehen, übt man auch. Camus hat über das Humane geschrieben, über Menschlichkeit, ja, lesen Sie das mal. P. liest es dann auch noch mal.

Bevor P. dann Friedrich Ani las, las sie Ruth Landshoff-Yorck, Die Vielen und der Eine zu Ende. Dieses Buch, vom Gefährten ins Haus gebracht, überraschte uns, so originell, so innovativ, wie es geschrieben ist, ein kleiner Roman aus dem Jahr 1930, ausgegraben vom AvivA Verlag, auf dem Umschlag steht das Wort virtuos, und das ist, dachte P., das ist Werbung, aber es stimmt trotzdem. Die genialen Schriftstellerinnen der 20er Jahre. Und P. schaute auf die drei dicken Bände Irmgard Keun. Oh! Oh ja! Ah!

Vorteil der Schreibtischarbeit: an das Leben in Klausur gewöhnt zu sein.

Dann las P. Friedrich Ani. Anis alter Ermittler, den P. aus dem SWR kennt, von kleinen Hörspielen, in denen Tabor Süden tatsächlich fast immer nach Vermissten sucht, ersteht darin auf nach literarischer Abwesenheit und geht den Weg einer rätselhaften Suche. P. las es in wenigen Stunden an ganz wenigen Tagen, den Schluss heute morgen sofort nach dem Aufwachen. Wie gut die anderen doch schreiben könnnen!, dachte P.

Neid ist das falsche Wort dafür.

Tschilpen und zwitschern

Geräusch: Sperlinge tschilpen, “aufgeregt” sagt man ja oft. Als P. an der Ligusterhecke vorübergeht, schaut ein Spatz aufmerksam, kein Stück aufgeregt. P. denkt: Das ist doch deren normale Redeweise!

Bei einer Revision der ungelesenen Bücher im Regal findet P. sofort drei unter den gelesenen, die sofort erneut gelesen werden könnten.

Anfrage: Hast du Lust, mir den Nacken zu kneten?
P.: Nein, ich lese.

Blick vom Balkon: zwei junge Frauen mit Kinderwagen, die Wagen schwanken und quietschen ganz leicht. Das mit dem Abstand geht grad so, aber es geht.

Normalität: Die alte Dame von schräg seitwärts gegenüber oben unten und daneben lüftet auch gerade.

Pantomime: Der andere will P. etwas sagen und wedelt mit der Hand, um nicht durch Berührung zu erschrecken. Denn P. sitzt mit Kopfhörern wie am Pult eines Flug- und Fahrzeugs. In Wahrheit sitzt P. am Mischpult der Worte.

Nachricht: Die New Yorkerin LaJunè McMillian habe sich entschlossen, die Bewegungen schwarzer Tänzer und Tänzerinnen in einer Bibliothek digital zu archivieren, berichtet der Deutschlandfunk. In der Aneignung afroamerikanischer Bewegungen und Tänze profitierten weiße popkulturelle Künstler!nnen vielfach vom Diebstahl schwarzer Kultur. Das Black Movement Project soll der afro-amerikanischenKultur stärkere Sichtbarkeit ermöglichen und dient als Dokumentation. Der Bericht beim DLF, weiter zu LaJuné.

Erste Anmerkung: Überraschend und technisch fortgeschritten ist auch die Art der Archivierung.

Zweite Anmerkung: Es gibt mehr Themen in der Welt.

Koordinaten: 13.957 (Zahl laut Robert-Koch-Institut vom Zeitpunkt 20. März 2020, 0 Uhr, online aktualisiert um 10 Uhr)

Spoiler: Es ist eine Schreibmaschine.

Kranz oder Krone
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