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Kranz oder Krone (2) – Gefühle im Homeoffice

19.03.2020 · poliander

Am Abend zuvor: Sternenhimmel. P. erwähnt es, weil die Helligkeit der Stadt meistens verhindert, dass eine nennenswerte Zahl an Sternen am Himmel erscheint. Es scheint also sehr klar zu sein.

Schon am neuen Tag wacht P. auf und erinnert sich unangenehmer Nachtträume vom Februar. Blick ins Notizbuch. Aus einer Menge heraus, träumte P., sei geschossen worden. Neuinterpretation: Unterwegssein in vollen Zügen, in denen es rundherum und schniefte, wie alljährlich von Oktober bis April war die ganze Stadt erkältet, Bazillen aller Art schleuderten durch den Wagen. P. fällt ein, dass die Berliner!nnen in den letzten Tagen nur noch verhalten und sich dabei abwendend ins Taschentuch schnupften. Indem P. sich die kaum für möglich gehaltene Verhaltensänderung der Mitberliner!nnen vergegenwärtigt, mischen sich Erleichterung, dass sie möglich, und Besorgnis, dass sie nötig wurde.

Geräusch: Halb sechs Uhr morgens singt eine Amsel vor dem geschlossenen Fenster.

Blick auf die Straße (zwei mal): Müllcontainer stehen draußen und werden wie üblich geleert.

Pantomime: Die auf dem Bürgersteig entgegenkommende Radfahrerin fährt dicht an die Baumscheiben heran, um P. auszuweichen, die wiederum sich dicht am Mäuerchen der Vorgärten hält.

Kontaktaufnahme: Die Brotverkäuferin möchte, dass P. mit Karte bezahlt, nimmt die Karte entgegen, schiebt sie in das Gerät, zieht sie wieder heraus. Ein Bon erscheint nicht, P. soll erneut bezahlen. P. nimmt die Karte zurück und reicht einen 20-€-Schein über die Theke. Während die Verkäuferin das Wechselgeld abzählt, wird der nächste Kunde, der tatsächlich in anderthalb Meter Abstand am anderen Ende der Theke steht, von der zweiten Verkäuferin gebeten, ebenfalls mit Karte zu bezahlen. Gleiches Ergebnis. Der andere Kunde meint, dass sich Viren auf dem Plastik der Karten länger halten als auf dem Papier des Geldscheins. Die zweite Verkäuferin entdeckt, dass die Bons sich innerhalb des Geräts verkringelt haben. Die Angespanntheit der Verkäuferinnen, die jetzt gezwungen schienen, sich beide über das Gerät zu beugen, breitet sich wolkenartig im Laden aus. Während der zweite Kunde den Laden verlässt, wartet P. auf die Rückgabe des Geldscheins.

Vorläufiges Fazit: Alle sind nervös. Kontaktvermeidung wie Kontaktaufnahme holpern. P. ärgert sich, der Bitte, die wenigen € für Zeitung und Brötchen mit Karte zu bezahlen, nachgekommen zu sein. Aufsteigendes Mitgefühl mit den Verkäuferinnen überdeckt P.s ärgerliches Selbstgefühl.

Verunsicherung: Soll man Plastikgeld abseifen?

Normalität: Der Gefährte im Homeoffice und P. diskutieren beim Frühstück über ein Interview, das in der FAZ vom 17. März erschien und keine epidemiologischen Aspekte berührte.

Nachricht: Die Stadt Wuhan in China meldet zum ersten Mal seit Ausbruch der Krankheit, die durch das Virus Corona hervorgerufen wird, keine Neuinfektionen. P. hört es im Deutschlandfunk.

Übung: Merkel halka sesleniyor (Köln Radyosu, Meldung vom 18. März 2020).

Zweck der Übung: Ernstzunehmende Mitteilungen auf der sachlichen Ebene halten, indem man sie in einer Fremdsprache annimmt.

Soundtrack: Blackbird singing in the dead of night (Amsel, Alicia Keys).

Koordinaten: 10.999 (Zahl laut Robert-Koch-Institut vom Zeitpunkt 19. März 2020, 0 Uhr, Aktualisierung 10 Uhr)

Kranz oder Krone
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