Polianders Zeitreisen

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Kranz oder Krone (4) – Poliander am Schreibtisch out of office

21.03.2020 · poliander

Solange wir Witze machen.

Sonnabend. Wer frühzeitig Brötchen holen geht, kann beim Frühstück “Klassik, Pop et cetera” hören. P. eilt zum Gemüsemarkt. Die Menschen stehen in sehr langen Schlangen vor den Ständen. Denn der Abstand von einer wartenden Person zur nächsten beträgt tatsächlich zwei Meter. Eisiger Wind, P. zieht die Kapuze über die Mütze und springt locker von einem Bein aufs andere. Und jetzt erkälten wir uns alle, wird gewitzelt. Der Bäcker zeigt seine Oberarme, Bauernbrot für alle! Große kleine runde schmale Laibe, und oben auf der Brötchentüte schaukelt ein gezopftes Brötchen mit Mandeln. Der Bäcker packt nebenbei weitere Bauernbrote aus der Kiste ins Regal, es ist das beste Brot Berlins, übrigens, und Heute, sagt er, wird das Brot für alle reichen. Muss erwähnt werden, dass der Bäcker Polianders Held ist? Er wird hier in der Kälte stehen, bis jedes einzelne Brot verkauft ist.

Wie könnte P. das Händewaschen vergessen, zuerst ins Bad, die Jacke fliegt auf den Boden. Rasch die Seife. Die Musik spielt schon.

Normalität: Verständigung über unsere Erwartung, heute ein Programm mit möglichst viel Etcetera zu hören, wie wir das lieben.

I don’t take coffee, I take tea my dear (Sting). Pop, auch gut, davor und danach viel Etcetera, herrlich. Da schlägt der Blitz ein. Nocturne für Klavier, cis-moll, op. Posth., gespielt von Tamàs Vàsàry. Der Gefährte und P. setzen die Tassen ab, schlagartig ist die Erinnerung da an jene Brigg Fryderyk Chopin, die in einem windigen Frühherbst im Hafen von Saint-Malo lag. Wenn der Wind sich ein wenig legte, tanzten Akrobateur!nnen in den Masten, und so viel Wind war es dann doch, ihre Kleider zu blähen, elegant wie seidene Segel. War da nicht später…, ja da war dieser spektakuläre Notfall, den das Schiff erlebte, vor den Scilly Islands im Orkan, es wurde bei Windstärke 9 von der britischen Küstenwache ins Schlepp genommen. Menschen kamen nicht zu Schaden. Diese ganze, aus Bruchstücken sich zusammensetzende Erinnerung an einen Abendhimmel, an Akrobatik, Tanz, Wind und dann all das dramatische wirkliche Geschehen, diese Erinnerung zusammengefasst in einem einzigen Nocturne. Wer könnte weiterfrühstücken, während Chopin gespielt wird?

Ausschaltung beinahe jeder aushäusigen Ablenkung, Konzentration auf ein Zuzweit in Arbeit, im ganzen Alltag. Der vergangene Augenblick, der Hafen von Saint-Malo, der ganze windige Ärmelkanal, der ganze Chopin überflutet die wenigen Kubikmeter einer Berliner Küche, füllt sie aus bis in den letzten Winkel. Des Herzens.

Blick aus dem Fenster: In dem triangelförmigen, nur den Bewohner!nnen der angrenzenden Häuser zugänglichen Garten ist der winzige Spielplatz – Sandkasten, Rutsche, Schaukel – mit rot-weißem Flatterband abgesperrt.

Augenblick auf dem Balkon: Clematis.

Oh Chopin.

Solange wir Witze machen.

Du sollst dir jetzt keine verlogenen Fragen stellen.

Koordinaten: 16.662 (Zahl laut Robert-Koch-Institut vom Zeitpunkt 21. März 2020, 0 Uhr, online aktualisiert um 10 Uhr.)

Soundtrack: Klassik, Pop et cetera mit Dorka Gryllus, temporär zum Nachhören in der Mediathek des Deutschlandfunks (1 Woche)

Kranz oder Krone
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