Polianders Zeitreisen

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Ein Gebirge, ein Kristall

17.04.2018 · poliander

Wallfahrtsdom in Neviges

Wallfahrtsdom in Neviges

Anfängliche Wärme, Anfang April, in Essen blühen Forsythien am Bahndamm, schwache Nebel aus Blüten steigen in Bäumen auf, dünnes Grün auf Zweigen, der lang Erwartete kommt in dünnem Kleid, der Frühling, und manche mögen sein Suffix nicht, weil sie glauben, jedes, das auf -ling endet, müsse ein dienstbarer Geist sein oder ein unmündiges Kind. Neviges, ein Stadtbezirk von Velbert, und der Sonnabendnachmittag liegt gleißend vorm Bahnhof, wo viel Platz für Autos ist und wenige vorbeikommen, jenseits der Straße schließen grad ein paar Bäcker, und an der Bushaltestelle stehen die Leute, als sei lang nichts mehr gefahren. P. sehnt sich sofort in die Stadt zurück, in eine, die größer ist, sagt P. Wäre da vorn nicht dieses Ding aus Beton, das über die Straßen eines Ortes ragt, den P. vorhin noch für einen Stadtteil von Köln hielt, wir haben es mit Unwissenheit zu tun, wenn nicht Ignoranz. P. ist nicht bewandert in Wallfahrtsorten, der Gefährte lächelt, und P. ist auf Toleranz angewiesen. Die Straßen sind leer, aber das sagten wir schon. Und dort ist der Hügel, der Wallfahrtsdom. Man nähert sich langsam und nimmt unterdes die Straßen wahr, die Cafés, die groß angelegt sind auf große Wallfahrt und großen Hunger. Und wo sind nur die Leute, die in all den Häusern hier wohnen, ausgeflogen oder beim Frühjahrsputz? Fuhr doch ein Bus oder der andere?

Übers Tor und durch den Hof

Übers Tor und durch den Hof

Durch Toreinfahrten sieht man ihn, er besteht aus lauter Ecken, Spitzen, grau in grau, verwittert auch, obwohl das Ding doch neu ist, denn was sind fünfzig Jahre, betrachtet man die Dome dieser Welt, die Kathedralen, Hauptkirchen, von den großen Bauwerken anderer Religionen zu schweigen.

Man muss sich über Stufen nähern, flache selbstredend, an hübsch gebogenen Kammern vorbei, in denen die Walfahrer versorgt werden, die Wallfahrerinnen, mit geistlichem Beistand, Gemeinschaft, vielleicht auch Tee und Brot. Heute sind sie alle nicht da.

Die Kirche ist eine Burg, aber sie ist es nicht wie eine Burg, deren Gebäudeteile Aufgaben erfüllen wie Verteidigung, Speicher und Wasserversorgung für die Eingeschlossnen, Zugbrücken gibt es nicht, keinen Ausguck, keine Schießscharten. Sie ist eine Burg im Glauben, im Wunder, im Hörensagen. Aber dafür macht P. keine Propaganda. P. ist eine Wallfahrende der Architektur.

Ein Berg, eine Burg, ein Dunkel darinnen, eine kristalline Struktur aus Schwarz. Und dann geht man tiefer hinein und findet die Fenster, die vom Eingang aus kaum zu sehen sind oder gar nicht. Zuerst sieht man von jedem das Licht.

Der Gefährte macht Fotos. Jemand übt auf der Orgel gewaltigen Ernst und wünscht sich größere Witze. Aus einem Lautsprecher schallt populäre Klassik. Von oben sieht man die Ausblühungen der Mineralien, die Wasser hinterließ, das durch den Beton gedrungen ist. Kristalline Strukturen. Architektur ist auch Verwitterung.

Ja, schön.

Und dann die S-Bahn nehmen, zurück in die Stadt, und auf einer belebten Straßen unterm Abendhimmel sitzen, in der Wärme der Häuserzeilen blühn die Rosabäume. Es war warm, Anfang April, in Velbert, Stadtbezirk Neviges. In Essen wurde der Frühling üppig, bald danach überall, üppig und sogar fett, mit lauter hellem, warmem Grün. P. denkt an Schrägen aus Beton, auf denen grün das Moos blüht. Nun, sie werden sie sanieren. Keine Sorge, denkt P., Moos ist eine geduldige Art Biomasse.

Koordinaten: 51° 18′ 46” N, 7° 5′ 13” O, Bahnstation Velbert-Neviges. Gottfried Böhm. Fotos: Meyer-Gramann / Gramann

Augenweide
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