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Unbekannte Manuskripte, nächtliche Briefe, Polianders subjektive Sicht

16.04.2018 · poliander

Christine Düwel, Nächtliche Briefe 3

Christine Düwel, Nächtliche Briefe 3

“Nächtliche Briefe”, sie sehen aus, als wären sie im Dunklen geschrieben. Wie sonst hätten sie geschrieben sein können: Irgendwo ist es immer dunkel. Grau grau sichtbar unsichtbar: als wären Fäden über das Blatt gezogen, schwarzweiß auf Grau, grau auf Schwarzweiß. Nächtliche Briefe, als wäre Papier knapp gewesen, immer noch ein Brief steht auf dem selben Grund. Um sie zu lesen, schieben wir uns zwischen die Schichten, wir versuchen es. Schlaflos, fragt P. sich, oder traumlos? Schreiben wie im Traum, denkt P.: aufwachen und einfach weiterschreiben.

Schreiben von Wörtern und Fragmenten von Wörtern, “Gemütsruhe” steht da, in die Farbe gekratzt wie in den Putz von Gefängnissen. Jede Nacht kann ein Gefängnis sein oder das Leben, jeder Schreibtisch kann ein Gefängnis sein, auch die Welt, aber Zweiheiten liegen so nahe, sind so einfach, das Gegenüber eines Begriffs finden, auch Zweiheiten sind Gefängnisse, die Welt ist mehr als zwei zu sein. “Schreibtisch” heißt ein Wort in nächtlichen Briefen, “Schreibtisch sitze” das Fragment einer Zeile, die geritzte Schrift bricht ab, geht unter in den Überrollungen, Überfärbungen, grau grau weiß schwarz.

Nein, hier hat keine wild draufzu gearbeitet.

In Ausstellungen gehen, Bilder ansehen. Leichtfertig stellt P. das Glas auf den hellgrauen Teppichfußboden, ein amtlicher Fußboden ist das, die Galerie scheint eine Bank gewesen zu sein, vormals, im Frühling, Sommer, Herbst strömt Licht ein, von der Straße her, gegen neun ist es schon nächtlich und noch hell oder beinahe etwas Drittes oder N-tes.

“Unbekannte Manuskripte” sind nächtlichen Briefen ein Gegenüber.

“Nächtliche Briefe” sind eine leise Schrift. Eine sagte, die nächtlichen Briefe wurden von einer gezeichnet, die Etty Hillesum gelesen hatte. Lies selbst nach, Leserin, du bist die Adressatin.

Margret Holz, Passage pensées

Margret Holz, Passage pensées

“Unbekannte Manuskripte” möchte P. lesen. In Rot und Schwarz, in geschnittenen Streifen, die den Rahmen überschreiten, wenig, vielleicht wenig, aber erkennbar. Rot, schwarz, weiß, weißer Grund, die ewigen Farben, die Bezüge. Hier kein grün, zurückgehen. Das Einfache ist das Unbekannte, das sagt P. was, darum ist P. hier. Es sind nicht einfach farbige Streifen, das hier, es sind Fragmente aus Gedrucktem, aus einzeln Gedrucktem, aus Büchern nämlich nicht. Und wie kann ein Manuskript gedruckt sein? Ist es doch von Hand geschrieben. Antwort? Weiß nicht.

“Unbekannte Manuskripte”, P. hörte sagen, das ginge auf Benjamins Passagen-Werk zurück. P. sollte das lesen, diese Gedanken. “Unbekannte Manuskripte”, das kann ein großes Werk sein. An Galeriewänden hängen diese Schürzen, Objekte unbekannter Manuskripte, unbekannter Gedanken, “Passage pensées”, sagte eine, P. hörte zu. “Passagen”, wer dächte da nicht an Port Bou, nicht an den Korridor, durch den Benjamins Gedanken zuletzt getrieben wurden, getrieben worden sein müssen.

Die Vielzahl der Wörter, die Vielzahl der Verben, ihrer Form, ihrer Stammformen, schreiben schrieb geschrieben, mit der Hand, mit der Maschine, mit einer Tastatur, tasten tastete getastet.

Nächtlich. Nächtlich hat P. Schwierigkeiten, die bekannten Schwierigkeiten mit dem Lesen von Briefen, dem Schreiben von Manuskripten, mit der Frage: “Was hat das mit mir zu tun”, mit der Antwort: “Die Geschichte spricht von dir.” Ja, geh doch hin, Leserin, geh doch, Leser. Schau selbst,  sieh, was es mit dir zu tun hat. P. kann hier nur Hinweise geben.

Spur, sagte eine, Spur verlorener Gedanken. Schreiben, schrieb, geschrieben. P. weiß, dass eine andere sagen wird: Kein Wunder, dass P. das interessiert. “Ja, ist klar.” Geschrieben, verschrieben, überschrieben, aufgeschrieben, abgeschrieben, unterschrieben, eingeschrieben, ausgeschrieben.

Sachdienlicher Hinweis. Ist klar.

Margret Holz, Unbekannte Manuskripte

Margret Holz, Unbekannte Manuskripte

Koordinaten: 52° 30′ 57” N, 13° 27′ 15” O. Inselgalerie Berlin: “Spur verlorener Gedanken” vom 5. April bis 5. Mai 2018. Christine Düwel, Margret Holz.

Augenweide
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