Polianders Zeitreisen

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Welche Farbe die Welt hat, warum, für wen

10.04.2017 · poliander

Bild: Magnolia Pictures

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Reclams Universal-Bibliothek Nr. 913 war das, Leipzig 1981: James Baldwin, Giovannis Zimmer. In irgendeinem unserer Umzüge und Teilumzüge, die wir nicht mehr zählen, muss es verlorengegangen sein. Es war eines jener schwarzen Reclamhefte, die später durch die etwas solideren hellbraunen ersetzt wurden, das Papier vergilbte bei allen schnell und wurde brüchig, in denen, die P. zerlas wie Giovannis Zimmer, umso rascher. P. wusste ganze Passagen auswendig, davon blieb ein Satz über die Kathedrale von Rheims, blieb die Art, wie man Dialoge schreibt, blieb ein Wissen über Frankreich, Männer, Sexualität, über die entscheidenden Dinge: race, class, gender.  James Baldwin: I am not your negro. Als P. den Filmtitel las, sah P. sofort dieses Reclamheft vor sich, seine zerknickten, angegilbten Seiten mit Flecken, denen man nicht ansah, ob sie von Kaffee, Wein oder Tränen herrührten oder was sonst in Frage kam.

Das Kino war so voll, dass P. und der Gefährte weit vorn sitzen mussten, die Köpfe in den Nacken gelegt. Zufall des Alltags, das soll man metaphorisch nicht zu sehr strapazieren, trotzdem, manchmal kann der Blick nach oben die angemessne Haltung sein. Es war so voll, und dass wurde das Tagebuch des Kinos Bundesplatz gezeigt: ein junger Mann steckte mit Kinobuchstaben auf der Ankündigungstafel des Kinos oben überm Eingang die Zeilen der Brecht-Eislerschen Kinderhymne zusammen, dazu hörte man Eislers brüchige Stimme singen. Die Leiter, die Buchstaben, nicht alle gleich groß, und ab und zu blieb eine Passantin stehen. Auf der Leinwand. Zuletzt aber, ehe der Film begann, trat der Kinobetreiber vor uns hin und begrüßte uns, glücklich, dass das Kino so voll war, gerade bei diesem Film, und vorn waren noch zwei Plätze. Würden noch zwei Leute kommen, er würde sie dorthin schicken, wir sollten uns nicht stören lassen. Und wie ihm all das am Herzen lag, Brecht und Eisler, das Kino und der Film.

P. dachte an die Kathedrale von Rheims, in Baldwins Text.

Dann begann Baldwins Text, gesprochen mit der Stimme Samuel L. Jacksons. Stille und Aufmerksamkeit. Der Gefährte und P., die sonst gern miteinander wispern im Kino, schwiegen und sahen zu. Der Film, der Text, handeln von den Zuständen in den USA. In der Geschichte, in der Gegenwart. Der Text spricht von drei Männern, die Baldwin als Freunde beschreibt: Freunde, die ermordet wurden. Das sind: Medgar Evers, Menschenrechtsanwalt, ermordet 1963, Malcolm X, Menschenrechtsaktivist, ermordet 1965, Martin Luther King, Pfarrer, ermordet 1968.

Der Film (Regie: Raoul Peck) ist ein Dokumentarfilm, aber was für einer, eine planvoll, mit Geist und Leidenschaft zusammengefügte Montage von Originalmaterial. Und ginge es nicht um Leid und Schmerz, um den Hass, der diese drei Morde und so viele mehr zeugte, würde P. stundenlang davon schwärmen, wie kunstvoll all das montiert ist, die weißen Beine Joan Crawfords, das schwarze Gesicht der Jugendlichen Dorothy Counts, die unbeirrt von den Hassern, die sie umdrängen, die Schule ansteuert. Sich erkämpfen, zur Schule zu gehen. Sich erkämpfen, an einem beliebigen Platz im Bus zu sitzen. Ja, das ist ein Dokumentarfilm. Es geht um Geschichte. Die unglaubliche, tief erschütternde Tatsache, dass Menschen von Menschen gekauft und verkauft wurden. Dass es Menschen gab, die das für einen gottgewollten Normalzustand hielten. Halten, auch das. Es geht um die tief erschütternde Tatsache, dass Menschen glaubten, ihnen, nur ihnen ständen Bildung, Wohlstand, politische Teilhabe zu. Dass es Menschen gibt, die das glauben. Dass es Menschen gibt, die auch heute glauben, der blinde Zufall ihrer Geburt als weiße MittelständlerInnen sei ein gottgewolltes Privileg. Menschen, die glauben, ihre Überordnung über andere Menschen sei gottgewollt und diese Überzeugung sei nicht, was sie ist: gotteslästerlich. Die Ursache von Morden. Baldwin sagt: “Die Welt ist nicht weiß. Sie war nie weiß. Weiß ist eine Metapher für Macht.”

Und es geht darum, dass wir das hören und das Kino ist voll. Nicht nur an diesem Sonnabend, an vielen Tagen, und tatsächlich nicht nur am Bundesplatz in Berlin. Und es geht darum, dass ein Film nicht nur gutgemeint ist, sondern gut. Denn wir wissen schon, was richtig ist, oder können es doch wissen. Aber innere Bewegung, die sich in politisches Handeln übersetzt, entsteht nicht durchs Gutgemeinte. Nicht durch die Unterteilung in schöne Literatur einerseits, politischen Text andererseits, Schubladen hier und da. Man muss die wichtigen Dinge hart sagen. Sie hören wollen, verstehen: was das für uns bedeutet, für die Gegenwart, für den Ort, an dem wir leben: die Welt.

Wenn P. nur wüsste, wo dieses dünne, schwarze Reclamheft abgeblieben ist.

Koordinaten: I am not your negro. Bundesplatz Kino Berlin

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