Polianders Zeitreisen

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Regenadvent

14.12.2015 · poliander

Gibt es noch halbleere U-Bahnen? Man muss sich nicht festhalten, niemand fällt um. Neue Gesichter, neugierige Blicke, andere Kopfbedeckungen, müde Augen, Blicke und Blicke. Poliander sitzt auf dem Eckplatz einer Dreierbank, neben P. zwei Frauen, die sich kichernd was erzählen und dabei aus kleinen Flaschen trinken. P.s Gegenüber starrt auf P.s U-Bahn-Lektüre: “Wenn Eltern zuviel trinken”. Sein Nebenmann trinkt ein Wegbier.
P.s Gegenüber: winkt P. zu und deutet auf das Wegbier.

P.: lächelt.
P.s Gegenüber zum Nebenmann: Siehste, was da drüben fürn Buch gelesen wird?
Nebenmann mit Wegbier: lächelt.
P.: —
P.s Gegenüber zu P.: Guck doch mal! Deutet auf das Bier.
P.: Ein Bier.
P.s Gegenüber: Und? Das Buch!
P.: Ich lese ein Buch.
P.s Gegenüber: Ich muss aussteigen. Ab.
Mann mit Wegbier wird erneut Nebenmann. Ein Bärtiger setzt sich, zieht eine Frau, seine Freundin vielleicht, neben sich.
P.: liest.
Bärtiger: stößt die Frau an, deutet auf P.s Buch, flüstert etwas.
P.:

Bärtiger zu P.: Schaun Sie sich doch mal um, alle um Sie herum trinken!
P.: Ja.
Bärtiger: Sind Sie die moralische Instanz der U7?
P.: Ich lese ein Buch.
Bärtiger zum Nebenmann: Was sagen Sie dazu?
Nebenmann: Ich trinke ein Bier.
Bärtiger zu P.: Ich finde das interessant.
P.: Möchten Sie darüber reden?
Bärtiger: Ist doch interessant!
P.: Sie sind nicht der erste, der sich angesprochen fühlt..
Bärtiger: steigt aus, ruft durch die offene Tür zurück in den Wagen: Ich trinke jetzt auch noch ein Bier.
P. und Mann mit Bier: lächeln sich zu.
Junge Frauen: kichern.

P.s Station. P. steckt das Buch ein und zieht die Mütze tiefer ins Gesicht. Draußen fällt Regen. Wer weiß, wohin er sein Haupt lege heut Nacht, begibt sich an diesen Ort. P. geht gradaus, einmal rechts, einmal links und biegt in die Waldstraße. Früher muss ein Wald in der Nähe gewesen sein.  Inzwischen strömt der Regen so, dass er sogar kleinere Zusammenballungen letzter Blätter in den Rinnstein spült. Da wird P. Zeugin eines Wunders, der Weihnachtsmann erscheint. Er sitzt in voller Montur und mit roter Mütze auf einem roten Motorrad, hinten drauf die dicke Geschenkebox, über dem Hinterrad weht eine rote Weihnachtsmannfahne. Er muss hier wohnen, denn er biegt ohne Zögern in eine schräg nach unten führende Einfahrt, in der er allerdings mit der etwas zu steil aufgepflanzten Fahne steckenbleibt. Hilfe ist nicht nötig. Der alte Herr steigt flott ab, sie zu richten, damit sie nicht abbricht. P. reibt sich die Augen, kann aber die Hausnummer nicht erkennen, sondern erst die Nummer 8 ein paar Häuser weiter. Als P. sich umdreht, dringt ein schwaches Leuchten aus der schrägen Einfahrt. Um zwei Ecken noch, und sowie P. den Schlüssel in der Haustür dreht, hört es zu regnen auf. Oben öffnet P. die Balkontür, und in diesem Augenblick erscheint die feine Sichel des zunehmenden Mondes.

Keine Koordinaten.
Wiegenlied zum Nachsingen: Der Mond ist aufgegangen.

Schönste Stellen
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