Polianders Zeitreisen

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Poliander im steinernen Land. Nachklang und Nachtrag

30.11.2015 · poliander

Häuserwand, Yerevan 2015

Häuserwand, Yerevan 2015

Die Luft war erfüllt von all dem Nichtvergessen.

Als P. so stand, oberhalb des Klosters Chor virap, im Rücken die Weingärten, linkerhand ein Friedhof, jenseits des Klosters die Grenze, dahinter die Ebene, aus der sich der Unerreichbare und sein kleiner Bruder erhoben, die beiden Ararate, war alles da, die Landschaft, die Architektur, die Geschichte, die unabgeschlossene, und die Menschen darin. Chor virap, das Kloster, mit dem sich die Erzählung von Gregor, dem Heiligen, dem Heiler, dem Erleuchteten und Erleuchtenden, verbindet. Das ist ein symbolgesättigter Ort, Symbol für die armenische Geschichte, Symbol für die Christianisierung des Landes, des ältesten christlichen Landes der Welt, ein Ort, an dem Spätantike, Mittelalter, 19. und frühes 20. Jahrhundert mit der Gegenwart verbinden, Symbol eines großen Kontinuums. Und niemand, der diesen Ort besucht, kann dabei den großen Bruch vergessen, der sich ereignete, den Mord an eineinhalb Millionen Menschen. Und als P. hier stand, dachte P. an einen anderen Ausblick, den Blick über Yerevan, von Tsitsernakaberd aus, der Schwalbenfestung, dem Denkmal und Museum.

Die Luft war erfüllt von all dem Nichtvergessen.

Das war im September. Am 28. November hörte P. im Radialsystem V das Konzert aghet – ağıt. Ich bin die wunde Stelle zwischen Orient und Abendland, schrieb Agapi Mkrtchian, und das war zum Motto des Konzerts gbewählt. Dort, an diesem wunden Punkt, hörten P. und der Gefährte die Musik von Zeynep Gedizlioğlu, Vache Sharafyan und Helmut Oehring.

Notes from the Silent One schrieb Gedizlioğlu, ein Konzert für Streichorchester, es war leise, wie der Wind, heulend wie der Wind über der Ebene, wenn er sich an einzeln Stehendem bricht, es war still bis zum Verstummen und doch war die Musik unablässig vorhanden, unheimliche Musik: Aussprechen, etwas sagen, die Stimme erheben oder schweigen; ihre Entsprechungen im Leben und ihre Entsprechungen in der Musik – die Spannung, die durch deren unterschiedliche Bedeutungen in unterschiedlichen Zusammenhöngen entsteht, auch durch ihre Gegensätzlichkeit, hat mich während des Schreibens dieser Musik immer begleitet und motiviert, weiter zu machen, schreibt Gedizlioğlu. Wer ist das, the Silent One, und wer ist sie, Gedizlioğlu? Sie spricht von ihrem Versuch, die Positioon einer Türkin und die einer Künstlerin verlassend sie – vor allem emotional – zu verstehen… sie, die Armenierinnen, Armenier. Leise, aber feste Musik, P. fasste die Hand des Andern, es wehte durch den Saal, nie nachlassender Wind der Erinnerung.

Und wer hätte dann jene Musik nicht geliebt: Surgite Gloriae, Sharafyan,die einer Frequenz folgte, die nur die Frequenz jener armenischen Architektur sein konnte, jener Gaviths, durch die die Füße auf Grabsteinen gehen. Streicher, Sopran, Bariton, Glocke, Horn… jener assoziierte Ort des eben vergangenen Gewitters: Sanahin, die Kuppel, aus der Gras wuchs wie das feine Haar auf einem Kinderköpfchen, jene Steine, über die die Füße gehen, jene Frequenz, jenes Aufreißen der Himmel. Jener Blitz über der Straße. Jenes Aufstehn.

Oehring aber schrieb dies: Massaker, hört ihr MASSAKER! Da, in dieser Musik, gab es dann auch einen Chor, es gab einen Gitarristen (Marc Sinan) und dessen Erzählung über seine Großmutter, eine so genannte Dönme, eine Zwangskonvertierte, es gab Musik, Dichtung und die Gebärden des Frauenchors, von Frauen, die auch aufstampften und mit Schlagwerkzeugen auf Holzkästen schlugen, und der Gitarrist erzählte, im Sturm der Musik, und die Sängerinnen hatten so viel Kraft, es war fast nicht zum Aushalten, sagte P. Aber niemand hätte in diesem Augenblick den Saal verlassen, im Sturm der Musik, im Wind der Gitarre, im Luftzug der gebärdenden Hände. Töne zwischen Mauern, ihr Verrauschen über der Ebene, ihr Brechen am Berg, ihre Durchdringen zu jenen, die schweigen, und zu den anderen. In der Erzählung von der Großmutter, die in ihren letzten Lebensjahren sich jeden Tag eine Sure aus dem Koran vorlas, stets die gleiche Sure, die man auch für die Toten liest, laut, lautmalerisch, ohne ein Wort arabisch zu verstehen, so schreibt der Gitarrist, und dieselbe Sure sei auch an ihrem Grab rezitiert worden. Und es war so viel Kraft in diesem Orchester, diesem Chor, dieser Gitarre.

Es ist ein Konzertprojekt. Jemand sagte, darin liegt Versöhnung.

Die Luft war erfüllt von all dem Nichtvergessen.

Wir sind beeindruckt.

Koordinaten: aghet – ağıt // Ein Konzertprojekt der Dresdner Sinfoniker. Gedizlioğlu (UA), Sharafyan (dt. EA), Oehring (UA). Radialsystem V Berlin. 52° 30′ 37” N, 13° 25′ 46” O
Hören: Deutschlandradio Kultur, 2. Dezember 2015, 20:03 Uhr
Weitere Aufführung: 29./30. April 2016 im Festspielhaus Hellerau Dresden

Nachträge
im April 2016: Protest der Türkei und Haltung der Beteiligten am Projekt Aghet.
Anfang Juni 2016: Bundestag verabschiedet Resolution

Begegnung
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