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Heim:Weh West:Berlin

01.12.2014 · poliander

West:berlin im Osten

West:berlin im Osten

Das Jahr der 25 Jahre geht hin. Jedes Ost- und DDR-Thema ist von vorn bis hinten beredet, wie schon vor 20, 15, 10 und 5 Jahren, jedes Klischee  ist zum hundertsten Mal gedreht, gewendet, beschrieben. Alle haben ihre Geschichte erzählt und wieder erzählt, analysiert, und die Geschichten, die weggelassen werden, sind auch immer noch die gleichen. Und aber und aber/mals klagen selbst die Missys, die Ostlerinnen unter ihnen erzählten erzählten erzählten, was das Zeug hielte, und nur die Westler_innen hörten nicht hörten nicht hörten nicht zu.

Getretner Quark wird breit, nicht stark.

P. findet, dass die Westlersozialisierten endlich mal mehr Geschichte/n erzählen sollen. Genießen und schweigen, sagt P., ist auch eine Technik, die Sache in der Hand zu behalten und selbst nichts preiszugeben. P. und P.s Gefährte finden im November 2014 endlich die Ausstellung (neudeutsch: Erzählung) von Westberlin, West-Berlin und West:Berlin, da gehn wir mal hin, wohin, in den Osten, nach Ostberlin, an eine der lärmendsten, kältesten Stellen Ganzberlins: Ephraimpalais, da kommt man hin über die Gertrauden, das ist die Fortsetzung der Leipziger, da tobt der Berliner Bär in seiner Gestalt als Autofahrer. Wer von Westen her mit dem Bus kommt, bewundert noch die Hochplattenbauten an der Leipziger und philosophiert, wie sich’s da wohl wohnte, dann aber raus und über die Spreebrücke und drunter durch, nur Lebensüberdrüssige versuchen die Straße oben zu überqueren. Also rein, und dann sind Westberliner_innen wieder unter sich, unter uns, je nachdem, das ist eine  Frage der Perspektive. P. jedenfalls hörte hier kaum wen ost-berlinern.

Und eine Frage der Perspektive war in Berlin schon immer alles, man kannte immer die Himmelsrichtung. Von Berlin (West) aus gesehen war überall Ost.

Gedränge im eingangsbereich, ja es ist voll, und das ist Westberlin, Gedränge vor Fotos, Fotos, Namen, wer weiß noch, wer Romy Haag ist, außer Anette Humpe natürlich, die stand so auf Berlin, dass es schon überschwappte, rüberschwappte in Osten, „da hinten fängt die Mauer an“ galt da und da. Bilder werfen die Erinnerungsmaschine an, Helga Goetze erkennt P. sofort, für immer versäumt, das Interview mit ihr, zu sehr gefremdelt damals, P. kam an der Gedächtniskirche vorbei und lauschte, fasziniert und verschüchtert, was für ne Rede, was fürn Mut, was für ne Zartheit, tolle alte Frau mit einem weisen Babygesicht. Die Freiheit in der Frontstadt, so was durfte man nie ohne Ironie sagen, wir konnten alles politisch einordnen und wussten wer da was und warum und wieso das Frontstadt-Image gehätschelt wurde und das „Berlin ist rund um die Uhr geöffnet“. Trotzdem stehn wir jetzt gerührt.

Könnte übern See fahrn.

Könnte übern See fahrn.

Der Gefährte sagt, so ein Auto hat er mal in Reinickendorf wirklich gesehn. Klug, das Amphibienfahrzeug unten an die Treppe zu stelln. Ist so schick. Auf einer mythischen Insel braucht man so eins, seine Existenz beweist den Mythos, „damals, als der Bär Flossen und sein Gefährt ne Schiffsschraube hatte“. Aber hat das Amphib die Insel je verlassen? Westberlin wa: großer Ernst und großes Spiel, ein Witz und eine Gefahr. P. überrascht: Wird  wirklich alles erzählt? Das geht nicht, aber dafür gibt es ja die Besucher. Einer erzählt P., dass er noch die Straßenbahn kannte, als Kind in Lichterfelde, wo sie heute schon Jahrzehnte nicht mehr fährt.

Im Gedränge lesen wir über alles noch mal, sehen die Stadt, in der jeder stets die Himmelsrichtung kannte: Schaute wer aus Berlin (west) raus, sah der überall ost. Ost hieß: ne Mauer. Berühmtheit und Erbärmlichkeit, Befreier und die Rosinenschicker, Reklame, Subventionsstadt, westfinanzierte Industrie, Bauaustellung, Entmietung, Instandbesetzung, modern und piefig, machte ihr nichts, der alten Schlampe Westberlin, Skandale und Straffälligkeiten, Berliner Filz und Proteste, Prügelei und Widerstand, Punks und Schnieketypen. Tausende, die sich im Studio Mathesie fotografieren ließen.

West:Berlin: Unter drei Stunden kommt keiner raus. Und nur auf Bewährung.

Koordinaten: Willkommen in West:Berlin, diesmal in 52° 30′ 57“ N, 13° 24′ 26“ O. Ephraimpalais, Poststr. 16, 10178 Berlin, 14.11.2014 bis 28.06.2015.

 

Ausgrabung
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