Polianders Zeitreisen

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Berlin ein Dorf

23.11.2014 · poliander

Annenkirche

Annenkirche

In jedes Dorf gehört eine Dorfkirche. Diese hier wurde als Holzbau errichtet, das war so zwischen 1215 und 1225. (Berlin gab es noch nicht, wenn von dessen Geschichte die Rede ist, wird immer gleich auf Cölln verwiesen.) Das Dorf Dahlem war da auch nicht aktenkundig, aber slawischsprachige Leute gab es schon in der Gegend, deutschsprachige kamen, „Assimiliation“ nennt man das, „Ostkolonisation“ nennt man das, neutral auch gern: „hochmittelalterlicher Landesausbau“, hier also: einer sagt so, einer sagt so.

Dahlem im Herbst, ein Ort für Handfestes, gebratene Kartoffeln, Schlehenwein, Wolle, die nach Schaf riecht. Das Fahrrad fliegt zwischen U-Bahn und Feld nach Dahlem. Wir lassen die gebratenen Dinge in andere Mäuler fliegen und gehen hundert Meter weiter, wo die Annenkirche breit auf dem Gottesacker (Guttsocker sagt man da unten in Thüringen, hier: Karkhoff vielleicht oder Kirchhoff, da sind wir im fremden Sprachgebiet) hockt. Schön sieht sie aus, oder kann man das anders sagen,

Spätgotischer Chor singt heute nicht

Spätgotischer Chor singt heute nicht

nein doch, wir sind in Berlin: was richtig Altes gibt’s hier nicht. Zuerst also gab es die Holzkirche auf einem Hügel, der heute noch zu erkennen sein soll, doch man muss in Berlin geboren sein, um das einen Hügel zu nennen. Um 1300 immerhin war sie aus Stein, und wenn auch die Fresken im Norden schlecht erhalten und ungeschickt zerteilt, der Chor ist hübsch, das ist das Mindeste, und dann: Lichteinfall! Fotografieren kann man das nicht, zumindest P. / Gramann kann es nicht.

Hier geht es sowieso nicht ums Fotografieren, P. und Gefährten streichen hier rum, weil es Geschichten gibt, um diese Kirche,im 19. Jahrhundert zum Beispiel war sie Teil des preußischen optischen Telegrafen, der Blickkontakt zwischen Berlin, Köln und Koblenz vermittelte. Da war Dahlem eine Station zwischen Berlin und Koblenz, es waren inzwischen sechs Jahrhunderte vergangen. Berlin in der Nachbarschaft Dahlems wurde im 18. Jahrhundert bedeutend, wuchs im 19. Jahrhundert explosionsartig an, und mit dem Groß-Berlin-Gesetz gemeindete es 1920 auch Dahlem ein.

Bunte Heilige an einem Altar an der nördlichen Chorwand, P.s Lieblingsheilige, Anna, ist selbdritt zu sehn. Die wohl ältesten Wandgemälde Berlins sind nur noch eine blasse Ahnung ihrer selbst durch historische Übermalung und unsachgemäße Restaurierung,  schön gleichwohl, P. fragt sich, wer sie wohl malte?, böhmische Wanderer, sagt eine Geschichte. Die Südseite des Chors trägt ein Kreuzigungstryptichon, das – wir sind hier in einer evangelischen Kirche – katholische Kritik provozierte durch seine Radikalität: „Tryptichon für Auschwitz“.

Unerzählte Geschichte

Unerzählte Geschichte

Mittelalter und Zeitgeschichte prallen aufeinander. Das 20. Jahrhundert hinterließ Spuren in der Geschichte von Kirche und Kirchhof, nicht nur der Glaube wurde hier bekannt oder grade der, so ist der Ort verbunden mit Namen wie Gollwitzer und Niemöller. Nicht nur, aber auch ein Prominentenfriedhof ist es, der die kleine Kirche umgibt, politische Prominenz: Rudi Dutschke, auch der spätere Bischof Kurt Scharf, dem am 31. August 1961, als er von seiner Arbeit in Westberlin kam, die Einreise in seinen Wohnort Ostberlin verweigert wurde, und von dem die Sage umläuft, er sei 1990 in einem Linienbus der BVG gestorben, als er von einem Besuch im Osten Berlins zurückkehrte. Der Bus stimmt, doch Scharf soll in Wahrheit zu einem Krankenbesuch unterwegs gewesen sein. Soll. Gewesen. Sein. So viel ist möglich in dem melancholischen Dorf Berlin, zusammengesetzt aus lauter anderen Dörfern. P. und Gefährten hören am liebsten Geschichten. Die nicht erzählt werden, denken wir uns dazu.

Koordinaten: 52° 27′ 32“ N, 13° 17′ 10“ O

 

Schönste Stellen
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