Polianders Zeitreisen

Polianders Zeitreisen header image 1


Leserinnenfreiheit

10.05.2014 · poliander

Immer noch.

Immer noch.

1981, im Zug zwischen Jena und Erfurt: Auf der Sitzbank im sonst leeren Abteil liegt P. gegenüber einer und schläft. Der Junge trägt eine verschlissene Jeans, unter einer Mütze quellen lange Haare hervor, vor der Sitzbank stehen die Kletterschuhe. P. zieht das Buch aus der Tasche. P. muss das Buch morgen weitergeben, es kursiert in der Stadt, in der P. studiert. Ein Buch, das so kursiert, hat man für eine Übernacht oder ein Überswochenende. Man muss sehen, damit fertigzuwerden. P. wird es auf dieser Fahrt schaffen, es ist eine kurze Fahrt, aber auch ein dünnes Buch. P. schlägt es auf.Das Buch heißt “Die wunderbaren Jahre”, es enthält eine Sammlung kurzer Prosatexte des Autors Reiner Kunze und ist 1975 bei S. Fischer in Frankfurt am Main erschienen. P.s Urteil ist jugendlich, gnadenlos und genau. P. findet die Texte, positiv formuliert, schlicht, aber realistisch, larmoyant, aber glaubhaft. Den Ton, gemessen an der Weltlage, findet P. nur wenig übertrieben, maßlos übertrieben hingegen die Reaktion der Behörden, die sich für zuständig halten.

(Ein Abschnitt in dem Buch, der sich mit Prag 1968 beschäftigt, erzeugt in P. andauernde Irritation, da er fälschlich suggeriert, 1968 seien deutsche Truppen in die CSSR einmarschiert. P. wird auch viele Jahre danach immer wieder über die tatsächlichen historischen Ereignisse nachlesen. Das ist kein Nachteil für P., untergräbt aber selbst unerachtet dessen späterer politischer Entwicklung nachhaltig das Ansehen des Verfassers bei P.)

Als der Mensch gegenüber aufwacht, sich aufrichtet, P. mustert und P.s Lektüre und langsam sagt: “Das Buch liest du im Zug?”, zuckt P. die Achseln. Das Wort cool ist noch nicht gebräuchlich. P. fühlt sich verwegen. Angesichts des in P.s Einschätzung verschwindend geringen Risikos, dass einer mit Klettis und langen Haaren irgendeine Schwierigkeit machen könnte, weil P. ein unerwünschtes Buch liest, würde P. das niemals zugeben. Sie lächeln sich an. Sie sehen sich später auf einer Party wieder. Es wird keine dicke Freundschaft daraus, aber eine freundliche Erinnerung.

P.s spätere Lesebiographie ist beeinflusst von der Erfahrung mit dem Lesen unerwünschter oder verbotener Bücher, ihrer hastigen Weitergabe oder handschriftlichen Vervielfältigung. Auch P.s Biographie ist davon nicht unbeeinflusst.

Leserinnenfreiheit führt direkt zu Schreiberinnenfreiheit.

Koordinaten: 10. Mai. Mehr darüber schrieb Poliander hier.

Erregung
·