Alle hatten ihren Tag, die Lehrer, die Metallarbeiter, die Meteorologen. Die Frauen, Lehrerinnen, Metallarbeiterinnen, Meteorologinnen inbegriffen. Das Buch hatte seinen Tag. „Das Buch“, nicht die Bücher, das „freie Buch“, nicht freie Bücher. Poliander und ich werden nicht einig, ob der Tag eine ironische Erfindung war oder nicht. Wir tun, als hätten wir den Tag ernst genommen, in den Zimmern, in denen Anfang Mai schon Pflanzen zu den Fenstern hin wucherten und aus den Fenstern hinaus, ins Hofgeschrei hinunter. Was heißt „wir tun“? So tun? Wir haben ihn ernst genommen. Der Tag der Bücherverbrennung war ein Tag antifaschistischer Gedächtnispflege, jedes Jahr leiser gepflegt. Bereut, mag sein, von seinen Erfindern. Wir, Jahrgänge 57, 58, 59, 60, 61, 62, 63, 64, hatten ein ausgezeichnetes Gedächtnis, das uns die Bilder der Geschichte nicht vorenthielt. Bücherverbrennung durch Bücherverbrennung, Bücherverbrennung durch Index, Bücherverbrennung durch Zensur. Wir kannten die Unterschiede. Wir kannten diese Sache, deutsche Geschichte. Wir trafen uns oft, wir trafen uns auch am 10. Mai. Wir schlossen das Fenster nicht, machten uns nichts draus, lasen uns eins.
„Ich lese von einem“, sagte die Schöne, „den keiner kennt.“ Dann las sie vom Meer in Sachsen. Wir hatten schon Bücher von Hilbig in Händen gehabt, eins, das „drüben“ erschienen war und von dem mir das Bild auf dem Umschlag im Gedächtnis blieb: ein Gesicht auf dem Gang eines Reichsbahnabteils, gezeichnet von Ruß und Schweiß, gezeichnet überhaupt, ein anderes, das in minimaler Auflage erschienen war, auf schlechtestem, geradezu Packpapier, „bei uns“, ich hatte es jemandem abgekauft für den Gegenwert einer Flasche Wein, ein richtiges, mit Druckgenehmigung versehenes Buch.
Wir in den Zimmern nahmen Bücher ernst. Wir liehen sie über Nacht, stahlen sie auf Messen, kauften sie in ungarischen Antiquariaten, schrieben sie ab mit der Hand, kannten wen, der eine Presse besaß, kannten wen, der druckte, der eine Zeitschrift machte, und das war Kunst. Kunst war so gut wie legal. Wir scheiterten auch: weil ein Buch an uns vorbeiging, jemand uns misstraute, jemand bei uns stahl. Weil wir nicht so viele Abschriften machen konnten. „Das Buch“ war frei, aber nicht die Bücher. Wir hielten an der Freiheit der Bücher fest in den Zimmern. Und dann war es, dass die Bücher sich nicht in den Zimmern halten ließen. Und jetzt ist es, dass Poliander mich anschaut und fragt, was nun ist. Was ist nun? Was ist nun, fragt er, mit der Zensur? Ich sage, dass es doch dieses Denkmal gibt. Denkmäler, sagt Poliander, lacht er mich aus?, Was, sagt Poliander, ist mit Zensur? Ich ziehe Nafisis Buch aus dem Regal.
Koordinaten: Einfache Erinnerung
Lesen: Azar Nafisi, Reading Lolita in Tehran