„Jetzt wachten die Seevögel alle auf, im großen Dünental hörte man ihr gedämpftes Rufen, ein paar lautere Schreie kreisten über uns. Der Wind zerfetzte den Nebel, die Sonne würde bald kommen, und hier hatte es einen Dorfweg freigeweht, braun und kieselsteinig, ein Platz, umgeben von Fundamenten, den einstigen Wohnungen der Kimbern, der Teutonen, der Ambronen, germanische Langhäuser waren das gewesen, sagtest du. Sie hatten Häuser gehabt und waren fortgezogen, als Sturmfluten die Marsch versalzten, und eine Hungerküste entstand. Tausend Jahre danach lag das Dorf unter Wanderdünen, da kamen andere und lebten vom Strandraub. Die Küste wurde Insel. Bald wird sie Sandbank werden, in fünfzig Jahren, in hundert Jahren Untiefe und dann ein tieferes, schwärzeres Meer. Die Europäer, als die Kimbern, Teutonen und Ambronen bei ihnen anlangten, glaubten, im Norden an ihrem Ausgangspunkt befände sich der Eingang zur unteren Welt.
Und hier hatten Feuer gebrannt, Ruß und Rauch waren nur weggewaschen von der Salzwasserluft, die Steine geschliffen vom gläsernen Sand. Du, mein Schriftstellervater, sagtest, die Feuerstellen wären sichtbar, weil die Leute vom Archäologischen Landesamt Steine verschoben hatten bis zur Erkennbarkeit, wo doch nie Eindeutigkeit gewesen war, nicht hier die Feuerstelle, hier der Mistgang, hier ein Zimmer, hier der Stall. Das war die Ordnung, die Archäologen herstellten. O Zivilisation, o Menschen und Tiere! Ich nämlich spürte im Nacken den Atem der kimbrischen Rinder, und im Gesicht die blauen Blicke der Dorfleute. Ich war der Fremde auf dieser Dorfstraße, die Einheimischen waren die Toten. Es gab keine Geister, nur meine dumme Frage und meine blühende Phantasie. Dafür war ich zu alt. Deine Worte. Doch meine Hand griff durch die Wand aus unsichtbarem Lehm, unabsichtlich geriet mein Arm in den Sog der Dorfbewohner. Und jetzt hatte ich ihre Augen im Rücken.“
Koordinaten: aus „3:59“, Fiktion.
Mehr lesen: Zündblättchen Nr. 29, erhältlich bei Else Gold und auf der Minipresse Mainz (21. bis 24. Mai 2009)