Polianders Zeitreisen

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Nasturtium officinale

04.05.2009 · poliander

Dom und St. Severi im Leitungsverhau

Als der Zug zwischen Oßmannstedt und Weimar durchfuhr, sah ich: Das Gras ist grüner. Es liegt an dem Dunst, der sich zwischen den Hügeln hält, an dem Regen, dem Wind, der nur langsam geht zwischen den Feldern.

In Erfurt goss es aus Eimern, ich war zum Arbeiten hier, Vorlesen, das ist schöne Arbeit, Arbeit für Geld dabei. Erfurt war die erste Stadt, die ich selbst wählte, vor dreißig Jahren. Am Tag nach dem Lesen, vorm Mittag, gingen A. und ich auf den Markt, ein Drang von früher trieb mich zum Beutemachen. Früher ging ich mit dem Korb, morgens halb sieben, die Glocken läuteten, sie läuteten seit fünf Uhr morgens unentwegt in Erfurt-Mitte, eine Kirche rief immer zum Dienst in Erfordia turrita, ich war vom Dorf, ich kannte keinen Markt, nur das Weiterreichen und Verkaufen von Garten zu Garten. Es war so städtisch, auf einen Markt zu kommen und bei einer Bäuerin zu kaufen. An diesem Erfurter Donnerstag dreißig Jahre später trieben Schwaden von den Bratrosten her, Touristen stiegen die Domstufen hoch, wir musterten die Stände, Zitronenthymian war nicht die Beute, nicht Ananassalbei, und auch die Akeleien, die auf ihren Stengeln schwankten, konnten keine Beute sein. Eine Frau, kleiner, als ich sie in Erinnerung hatte, glitt vor mir ins Bild, ich erkannte sie an ihrem Griff an die feine Strähne vor dem Ohr, die sie zu glätten versuchte, obwohl sie glatt war, Dr. J., Literaturwissenschaftlerin.

Dr. J., ihre Haare sind blond, ich schaue zu A., A. begrüßt eine Bekannte, man trifft immer Bekannte in Erfurt, wenn nicht am Domplatz, dann am Anger, wenn nicht am Anger, dann am Wenigemarkt. Dr. J. ist kleiner geworden, ich etwa nicht?, dreißig Jahre, ich gehe ihr nach, ich berühre sie am Arm, sie schaut mich an, sie schaut weg, “Ach”, sagt Dr. J., ich sage: “Ja.” Wo komme ich her, was mache ich hier, wo lebe ich jetzt? Gut, sagt sie, geht es ihr, und lebe ich, ich errate die Frage, Ja, ich lebe davon, Nein, es ist keine gute Frage. Nach zwei Minuten sind wir schon uneins. Ist es nicht, sagt sie, die einzige, die alles entscheidende Frage? Nein, sage ich, sie beantwortet sich im Augenschein. Waren wir je einig, denke ich, habe ich laut gedacht? “Doch”, sagt sie, natürlich, sie vertritt ja die Frau in der Literatur, die kenne ich auch, diese Frau, Heldin auf dem Papier, Herrscherin über das Papier, Sklavin, addicted to words. Was tut sie nun?, Großmutterdienste in der Stadt, ehrenamtlich, ihre Freunde lachen, mir gefällt es, dass sie das tut, es ist handfest, ich vergesse die Frage von vorhin, dann ein Lidschlag, Blick zum Dom, der Moment vorbei, Verlegenheit kommt auf, es gibt nichts zu erzählen nach dreißig Jahren, oder alles, und wer will das wissen, alles? A. erlöst mich, ihre Bekannte ist fort, sie wartet, “Sie entschuldigen”, jetzt ganz Konversation, selbstverständlich, da ist es zwölf, Glocken läuten, das stört das Gespräch und rührt immer, adieu also und alles Gute, das unbedingt, alles Gute.

Wir hatten den Stand schon gehabt, eben, vorher meine ich, da lag sie in großen Kisten, feucht, grün, grüner und feuchter als alles, brüchige Blättchen, scharf, salzig: Nasturtium officinale. A. führte mich nun über den Platz, die Glocken läuteten noch immer, ich tratschte schnell etwas über Dr. J., während wir erneut die Stände durchmusterten, aber nirgend war das Kraut so grün und so feucht wie am ersten: Beute, wir retteten sie vor der Sonne, und A. brachte mich zum Zug, das Gras ist grüner, dachte ich, er fuhr an, der Zug. Schärfer, feuchter, grüner – ich rettete den Beutel erneut, nun auf den Gepäckrost -, aber, dachte ich, das war kein Grund zum Bleiben. Ich drehte mich zum Fenster, um A. zu winken.

Koordinaten: Erfurt, 1979, 2009

Begegnung
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