Polianders Zeitreisen

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Unsterblicher Schmidt hundert

18.01.2014 · poliander

Typischer Fehlgriff: in beinahe dümmlichem Entdeckungsgefühl auf den Link klicken, der “Das steinerne Herz” im Projekt Gutenberg verheißt: Es ist das Herz E.T.A. Hoffmanns, das sich hinter diesem Link verbirgt. Liebe macht blind, in dem Fall für den Ablauf der Zeit, der frühestens im Jahr 2049 Gemeinfreiheit für Arno Schmidts Roman der beiden deutschen Nachkriegsspießergesellschaften DDR/BRD (inklusive der in DDR-Jargon “selbständigen politischen Einheit” Westberlin), für “Das steinerne Herz” also, verheißt. Schmidt ist einer der beiden berühmtesten unbekannten deutschen Autoren*. Und wir mit Poliander, wir lieben ihn. Sie, die Herrschenden, die in der oberen Etage, Marke Machthaber Volksredner Wichtigmacher, was gern alles in eins fällt (sagen wir), sie mochten ihn nicht, im Westen so wenig wie im Osten, vor allem wohl, weil Arno Schmidt ein kalt überzeugter Pazifist war: “Lese wenig Zeitung. Wenn’s mal schießt, dann weiß ich, es ist Krieg.” Die einen hassten seinen gottlosen Atheismus, die anderen seine radikale Ablehnung aller Ideologie, und kein ost- oder westdeutscher Spießer verzieh ihm seinen respektlos vollkommenen Sprachgebrauch. Im Westen klagten sie ihn an wegen “Gotteslästerung und Pornographie”, im Osten druckten sie ihn einfach nicht, sieht man von einem Reclamheft ab, dessen – hoho – zweite Auflage 1986 erschien, auch die erste wohl schon deutlich nach Schmidts Tod, die disparaten Lizenzvermerke zeigen, dass Schmidt in den Verlagen seines Wohnlandes (von Heimat zu sprechen verbietet sich) zeitlebens keine bleibende Statt fand; die Editionsgeschichte der Schmidtschen Bücher beweist: Die Herausgabe solcher Werke ist ein Kraftakt, der ohne leidenschaftliche Liebhaber, darunter finanziell potenter, gänzlich unmöglich wäre.

Kein Schriftsteller, den Leserinnen lieben (außer manche), einer, dessen Bücher am intensivsten von Mathemat_innen, Germanist_innen und Sonderling_innen jeder Art gelesen werden. Wers gelesen, vergisst nie das Bubenstück, mit dem der Held mit dem steinernen Herzen sich die dritte Auflage von Ringklibs Statistischer Uebersicht der Eintheilung des Königreichs Hannover in der Stattsbibliothek Unter den Linden verschaffte und diese nach Ahlden in Niedersachsen transferierte. Und all die sprachlichen Eigenarten, denen man, einmal eingelesen, nie ohne diebisches Vergnügen folgt.

“Tina oder Über die Unsterblichkeit”:
“Jeder ist zum Leben hier unten verdammt, wie sein Name noch akustisch oder optisch auf Erden oben erscheint. Oder, planer gesprochen : bis er weder genannt wird, noch irgendwo mehr gedruckt oder geschrieben vorkommt – dann ist jede Möglichkeit einer Rekonstruktion verschwunden.”
(Benommen sitzen und verarbeiten.)
Schriftsteller ?: “Solange noch 1 Exemplar eines ihrer Bücher vorhanden ist, besteht schon gar keine Aussicht : Was meinen Sie, was Der einen ausgibt, wenn Einer durch die Kommission die amtliche Mitteilung erhält, daß keine seiner Schriften mehr existiert?!” (Darf dann eine rotgoldene Anstecknadel tragen).

Arno Schmidt ist, nach seiner eigenen Erzählung gemessen, unsterblich, dabei wusste die nichts vom www.

Heute wird der Unsterbliche hundert. Kräftig, Leserinnen und Leser, trinkt auf sein Wohl in der Unendlichkeit!

Koordinaten: 18. Januar 1914 bis 3. Juni 1979.
Sofort ansehen auf arte: Mein Herz gehört dem Kopf (ganz sicher kein Permalink)
Unbedingt anhören: Radiosendungen zum Geburtstag (wohl auch kein Permalink)

* Der andere ist Hans Henny Jahnn.

Ausgrabung
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