Die Reise geht nach Norden, vom See Genezareth oder auch Lake Kinneret, wie auf den Schildern zu lesen ist, die P. lesen kann. P. ist analphabetisch in diesem Land, wichtigstes Utensil ist die Souvenir-Postkarte mit den hebräischen Buchstaben. Nun vom Lake Kinneret zum Hermon oder Banias geht es, einer der der drei Jordanquellen, und das Grün am Banias ähnelt dem Grün, das P. und die Reisegefährtin kennen, sieht man von den Feigenbäumen ab, die in keinem deutschen Mittelgebirge wachsen, und von allerlei fremdem Gestrüpp. Hier ist der Ort, an dem Gott Pan geboren ist, denn ja, auch Götter werden geboren. Dieser, wie wir heute wissen, sogar mehrmals, an verschiedenen Orten, von mehrerlei Eltern gezeugt. Östlich von Kirjat Schmona geht es zu dem Platz, von dem aus der Weg von den Banias-Fällen hinaufführt zur Quelle, zugleich dem Ort, an dem der bocksfüßige Gott in die Welt kam. Zuerst gelangt man an einen großen, leeren Parkplatz mit einem Wasserbecken, an dem feste Bürsten liegen, deren Sinn sich sofort erschließt, als wir auf den Weg kommen, nicht ohne dass die Frau am Eingang des Nationalparks uns warnte: Zwei Stunden! würden wir gehen! müssen!, ehe wir die Quelle erreichen, und zurück wären es dann erneut! zwei! Stunden! Doch der Weg ist gut zu gehen und gerade eine gute Stunde weit. Nur dass er sich von Anfang an an unsere Sohlen heftet, der Weg, mit einer schmatzend nassen und leuchtend roten Erde, die sich unter den Sohlen zu einem festen und beinahe runden Klumpen ballt. Oh der Erdduft und der des Waldes, beinahe vertraut. Wolken reiben am Himmel, etwas Regen tröpfelt, ein Liebespaar kommt uns entgegen auf dem Weg zum Wasserfall, der laut rauschend und durch das enge Bachtal Feuchtigkeit sprühend und nebelnd nicht gar hoch, aber reichlich stürzt. Vögel überall, Wurzeln, über die wir stolpern, es ist glatt, schließlich geben wir den Versuch auf, den Lehm unter den Sohlen abzustreifen. Hufe müssten wir haben, um hier fest hindurchzustampfen, Bocksbeine. Es geht auch so.
Wir passieren, nun im einsamen Wald und beschattet von Blättern Überreste von Mühlen, der Weg folgt ihren trockengelegt-feuchten Zuleitungen, das Grün lichtet sich, flache Wasserbecken kommen in Sicht, und über ihnen ein Steilhang, von Höhlen und antiken Fenstern durchbrochen, den Resten des Tempels. Touristen über Touristen, die auf der Suche sind nach Christi Wundertaten im biblischen Cäsarea Philippi, wie durch ein aberchristliches Wunder werden sie, die TouristInnen, später auf den Fotos nicht zu sehen sein. Die Höhle des Gottes: bunt gestreifter Fels.
Pan, der Gott, der Musik, Tanz und seine Ziegen liebt, der Furchtbare, der in Angst und Schrecken versetzt, wer ihn zu seiner liebsten Stunde stört, der Lüsterne, Zärtelnde, der Gewalttäter, vor dem die Nymphen fliehen, zeigt sich nicht, oder P. kann ihn nicht sehen. Nur das Licht ist da, göttlich wie immer in diesem Land, die Wolken, aus denen von Zeit zu Zeit Tropfen fallen. Irgendwo hinter den Touristenbussen klagt ein Ton, den P. nicht deuten kann, ist es Syrinx? P. verläuft sich, nicht auf dem kleinen Wanderweg, sondern hier auf den Touristenpfaden, plötzlich steht P. allein, WOHIN?, ein paar Schritte weiter ist sie umgeben von Fremden, die lachen und mit den Telefonen fotografieren. Wo war ich? Und finde die geduldig wartende Mitreisende, Erleichterung. Am Weg dann ein Häuschen mit einem Öfchen darin, Brote, dünn und groß wie Geschirrtücher, werden entrollt, mit Labaneh gefüllt, Olivenöl betropft, mit Za’atar bestreut, einem Kraut, dessen wilder Schweißgeruch den Ort bekräftigt, den wir betreten haben: das Reich des Pan. Wir essen das Brot am Wasserlauf, trinken den kardamomsatten Kaffee, beäugt von zwei wohlausgerüsteten Frauen aus dem Schwäbischen, und tiefer im Wald, auf dem Weg zurück, hören wir im Rauschen des Quellflusses ein Stampfen, ein wildes, tänzerisches Singen, ein Johlen, hoh! die Herden, die Ziegen, die in Bäume steigen, die Raubvögel, die sich auf die kleinen Tiere zwischen den struppigen Sträuchern stürzen, gewalttätige Himmels- und Erdenmusik, anders und nicht weniger bestürzend schön als L’après-midi d’un faune, dirigiert von zärtlichen Greisenhänden, geflötet von einer Könnerin. Oh ja, man muss alle Versionen hören, die wahre gilt immer nur einen Augenblick und enthüllt sich immer nur der, die zur gegebenen Zeit am rechten Ort ist.
Es soll ein Gerücht sein, dass der große Pan gestorben ist. Doch als es geschehen sei, habe Heulen und Wehklagen sich erhoben, ein Schreien und Weinen tief in den Wäldern.
Und ja, wir fanden zurück.
Koordinaten: 33° 11′ 12“ N, 35° 37′ 9“ O, Banias Nature Reserve, detaillierte Beschreibung für Reisende.