An seinem dreißigsten Geburtstag setzte Lucky Luke seiner großen Suche ein Ende und klopfte an die Tür des berühmten Therapeuten in der Tunalı-Hilmi-Straße. Selma öffnete. eine Frau wie ein Verbotsschild: „Hier darf man nicht rauchen“, sagte sie.
„Wer raucht denn hier?“
Selma bemerkte, dass die Maltepe, die aus Lucky Lukes Mundwinkel hing, gar nicht brannte. „Ihr Termin ist um vier, nicht wahr?“, fragte sie.
„Ich glaube, ja.“
„Das sind noch zwanzig Minuten.“
„Kann schon sein.“
„Kommen Sie zu Ihren Terminen immer so früh?“
„Fragst du immer so viel?“
(Emrah Serbes, Behzat Ç. Verschütt gegangen)
Kreuzberg im Mai, also Berlin, falls jemand nicht weiß, was gemeint ist, Köpenicker Straße genauer gesagt, da sieht Westberlin beinahe aus wie früher, da gibt es Läden, da kostet der Kaffee einen Euro, der Espresso 80 Cent womöglich.Da muss man jetzt alle mit der Nase drauf stoßen, auf diese Bücher mit dem schönen Schriftschnitt und dem feinen Satzspiegel, genug Raum fürs Auge, und dem schlichten Lesezeichen, auf dem der Zigarettenrauch eine Cedille tanzt. Schöne Bücher, sag ich, alle übersetzt, aus dem Türkischen. Da kennen wir uns nicht besonders aus, Poliander und ich, nur dass uns Memed mein Falke gefiel, von Yasar Kemal, das können wir sagen, auch Der Bastard von Istanbul gefiel uns, von Elif Shafak, aber das war jetzt gar nicht aus dem Türkischen, oder?, und Orhan Pamuk, so leid es uns tut, also dessen Text eher nicht, so isses halt, Subjektivität, wohin man schaut. Alles in allem, wir haben keine Ahnung von türkischer Literatur, ja peinlich ist das, liegt sie doch nicht gar so weit weg, diese Literatur, und da sollten wir aber.
Sie aber auch!
Sie sollten da jetzt auch mal was lesen. Nicht, weil man damit irgend eine Korrektheit bedient (obwohl auch das nicht schaden kann), sondern weil es gut ist. Und dazu gibt es jetzt viel neue Gelegenheit, zehn Bücher im Jahr, frisch, auch frisch übersetzt. Irgendwo muss man ja anfangen, fangen Sie doch mit Emrah Serbes an, mit Behzat Ç. Und nein, Verschütt gegangen ist der zweite Roman, zuerst lesen Sie bitte, unbedingt, Jede Berührung hinterlässt eine Spur. Wir sagen jetzt nicht mehr, wir wollen niemanden beeinflussen, ach was, natürlich, wir wollen Sie beeinflussen, verführen. Am besten lesen Sie zuerst das Porträt des jungen Verlags binooki, den zwei kluge und unabhängige Schwestern gründeten, ja, wir meinen geistige Unabhängigkeit, gibt es eine größere Tugend für eine Frau?
Direkt zu Gramanns Reportage:
Wild, seriös, kaputt und adrett. Inci Bürhaniye und Selma Wels erklären die klischeefreie Zone
erschienen am 7. Juli 2012 in der Tageszeitung ND.
Und dann die Bücher. Emrah Serbes ist, obwohl wir natürlich nicht alle binooki-Bücher gelesen haben, vorerst mal unser Lieblingsautor dieses Verlags. Das hat mit dem Helden zu tun, der tatsächlich schrecklich heldenhaft ist, auch schrecklich mannhaft, und nein, das ist nicht lustig. Und es hat damit zu tun, wie das geschrieben ist, ausgezeichnet und mit feinem Humor, also mit der Sorte Humor, die man braucht, um die Welt überhaupt zu ertragen, nicht aufdringlich, aber deutlich, nicht lustig, bitterkomisch, klug und kritisch. Klug, ja, sagten wir schon, also klug und mit gutem Humor, das kann man doch ruhig zweimal sagen, oder? Und man kann auch ruhig mal sagen, dass es im neuen Berlin ein paar Sachen gibt, die es im alten Westberlin nicht gab, und die auch ganz großartig sind. Wie dieser Zweifrau-Verlag in der Köpenicker, Xberg.
Koordinaten: 52° 33′ N, 13° 22′ O, binooki-Verlag, kleiner Trickfilm von binooki (mit Ton!) zu binookis erstem Geburtstag