Polianders Zeitreisen

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Keine Nostalgie

14.01.2012 · poliander

Gwisdek. Pressefoto: Babylon Berlin

Gwisdek, anderer Film. Pressefoto Babylon Berlin

Ein Mädchen mit einem Schirm ist ein Motiv dieses Films, das P. nicht vergisst. Die Kleine geht und holt ihren besoffnen Vater aus der Kneipe. Ihre Beharrlichkeit und Unverdrossenheit in ihrem schweren Kinderleben hat P. damals beeindruckt, sie, die im Film wohl Edith hieß, jedenfalls sagt das Polianders Erinnerung im Nachhinein, ist eine seltsame, wunderbare Nebenfigur der Filmgeschichte (nee, wir haben es jetzt mal nicht kleiner, liebe Leute!) Der Film “Jadup und Boel” war, als P. ihn sah, 1988 wahrscheinlich, das Radikalste, was im Osten zu sehen war, nimmt man das, was offiziell zu sehen war, für das Ganze. (Was nicht  ganz korrekt ist, im Großen und Ganzen aber doch.)P. hat diesen Film damals gesehen, im Osten, in der letzten Phase des Niedergangs. Er war verboten, aber er wurde gezeigt, im Berliner Kino “Babylon” (heute: Babylon/Mitte, denn es gibt auch Babylon/Kreuzberg). Mundpropaganda, sie gingen hin, zwei Freundinnen, sie zogen sich extra bunt an: Die Schwarzgekleideten würden alle, alle da sein. Bunt, um den Niedergang zu negieren, denn sie selbst würden nicht niedergehen, da waren sie sicher, was an ihrer Unerfahrenheit lag oder ihrer Arroganz oder beidem. Die Schwarzgekleideten waren auch alle da. Die Plätze des Kinos reichten, aber keiner blieb leer. P. kann heute nicht rekonstruieren, wer gesagt hatte, dass es diesen Film geben würde, und rekonstruiert auch nicht, warum er eben doch, verbotenerweise, gezeigt wurde. Auch nicht, warum heute, wenn überhaupt, von diesem Verbot die Rede ist und nie davon, dass er ganz wenige Male (P. vermutet: zweimal) zu sehen war. Dabei charakterisiert das so sehr gut den verzweifelten und aberwitzigen Zustand des Staates in seinen letzten Jahren. Ständig brach irgendwas zusammen, ständig ging es doch wieder weiter, ständig besorgte ihnen einer den rettenden Kredit, der das Leiden verlängerte  (Strauß, you remenber?), ständig ging uns auch ganz privat das Geld aus, ständig brauchten wir dann doch keins, weil uns wer was schenkte, dauernd kriegte wer Einreiseverbot, dauernd reiste wer aus, ständig wurde irgendwo hart durchgegriffen, ständig schlüpfte irgendwo was durch. Genug, dass wir uns nicht beruhigten, genug, dass wir nicht vollends ausflippten.

Es ist eine spezielle Sache, warum dieser Film auch nach dem Ende der Verbote nie die Popularität fand, die andere erlangten, wie “Spur der Steine” zum Beispiel. Es ist nichts darin, das zum Schenkelklopfen animiert.  Er bringt manchmal zum Lachen, aber macht keine populären Witze. Er bezieht sich auf Tabus, über die zu reden auch heute noch tabu ist. Vergewaltigung zum Beispiel. Er zeigt nicht nur das hyperrealistische Detail, wie bei der Eröffnung einer Kaufhalle ein benachbartes Häuschen zusammenbricht (ja realistisch, P. sah Häuser zusammenbrechen, die wurden nicht abgerissen, sondern brachen einfach zusammen und wurden weggeräumt). Der Film erzählt, wie ein Händler übers Land zieht und den Leuten ihre historischen Möbel abschwatzt, um sie zu “Antiquitäten” zu machen (und wir wissen ja alle, was mit diesen Antiquitäten geschah, oder?) Er erzählt aber auch die Geschichte  des Mädchens Boel und die des Mädchens Edith, erzählt etwas über widerständiges, widerspenstiges Leben. Der Film wirft einen Blick vom Turm übers Land, atemlos vom Treppensteigen, atemberaubend vor Weite.

Jetzt, aus Anlass des Geburtstags von Michael Gwisdek, der jenen Antiquitätenhändler spielt, wird “Jadup und Boel” wieder gezeigt. Wer was verstehen will, kann da ruhig mal hingehen. Wer einen großartigen Film sehen will, der dauerhafter ist als der Staat, der ihn verbot, auch.

Ansehen: 18. Januar 2012, 18 Uhr im Kino Babylon am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin
Koordinaten: 52° 31′ 33” N, 13° 24′ 42,8” O, Jadup und Boel (1980), R.: Rainer Simon, 103 min

Ausgrabung
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