Polianders Zeitreisen

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Ungetilgte Spuren

30.01.2012 · poliander

Abbildung: Wallstein Verlag Göttingen

Abbildung: Wallstein Verlag

“Der Engel des Vergessens dürfte vergessen haben, die Spuren der Vergangenheit aus meinem Gedächtnis zu tilgen.”
Maja Haderlap, Engel des Vergessens

Jedes Buch ist eine Reise. Maja Haderlaps Roman ist eine Reise durch die Nacht, sagt P., und P. sagt auch, dass sich niemand einbilden soll, dass das dann ein Zitat wäre von irgendwas. Poliander und ich, wir haben lange kein Buch gelesen, das so gut geschrieben ist, so poetisch, von Romantizismus frei. Haderlap erzählt von einer Kindheit und Jugend in Kärnten, Koroška, in beidem, dazu in dem Geisterbezirk, in dem die Toten und ihre Spuren leben. Und die Lebenden gehen mit ihnen um oder sie meiden sie. Haderlap ist in dem magischen Jahr 1961 geboren, sechzehn Jahre nach dem Krieg, und wer je glaubte, in diesen Jahren, den Sechzigern, sei der Krieg lange her gewesen, kann den Irrglauben verlieren an ihrem Buch. Wer meint, keine Kindheit gehabt zu haben, sieht hier, was eine Kindheit heißt, nämlich ist sie nicht der Ort und die Zeit, wohin man sich sehnt in sehr guten oder sehr trüben Stunden. Sondern die Kindheit ist die Fremde, aus der man gekommen ist, gekrochen oder erhobenen Haupts gegangen, meistens mal so, mal so. Ein Kind gewesen zu sein heißt, etwas hinter sich zu haben. Das Kind, dieses Ich, von dem Haderlap erzählt, hat vieles hinter sich, Großmutter, Verwandte, Leute, und viele Tote. Das Außergewöhnliche an Haderlaps Kindheitsbuch ist nicht die getreue Schilderung des Lebens auf dem Land. Vom Leben auf dem Land sprechen andere Bücher auch und kennen auch all die heute unappetitlich scheinenden rußigen, säuerlichen,  blutigen, realistischen Einzelheiten. Außergewöhnlich ist die starke und stetige Präsenz der Toten, die starke Realität der Geschichte, an der sie teilhatten, der Verbrechen, die an ihnen getan wurden; außergewöhnlich ist die Präsenz der verletzten, abgestorbenen, verwilderten Teile in denen, denen Geschichte geschah. Das erkennen heißt, den Grund des immer wieder neuen Erschreckens finden.  Warum tun die Erwachsenen, was sie tun? Warum sind sie, wie sie sind?

“Engel des Vergessens” ist ein Roman über den Krieg und wie er sich in denen fortsetzt, die ihn überlebten. “Ich möchte einmal mit dir zur Arbeit gehen”, sagt die Tochter zum Vater. Die Arbeit ist im Wald. Dort oben, wo man “spazieren” muss, wie der Vater sagt, weil man sonst außer Atem kommt. “Bist du im Krieg hier gewesen?”, fragt das Mädchen. “Ja, wir hatten höher oben einen Bunker, sagt er. Dein Großvater hat den Kurierposten geleitet. Ich habe gekocht. Es war sehr gefährlich.” Und als das Mädchen fragt, ob er Angst hatte: “Wird schon so gewesen sein, ich war ja noch ein Kind, ein paar Jahre älter als du.” Alle waren sie bei den Partisanen oder haben sie doch unterstützt oder unterstützen müssen, auch die tiefkatholische Großmutter, die dem Mädchen die düsteren Tricks verrät, mit denen man sich in höchster Gefahr in Schutz nimmt, verzweifelte Tricks wie Kreuze schlagen mit der Zunge im geschlossenen Mund. Es ist ein Buch über die Marter, über Ravensbrück, über die Deportation in KZs und darüber, wer es überstand und wer nicht, und jede und jeder dieser Leute bekommt die eigene Geschichte, nichts wird ausgelassen. Es ist ein Buch über die Sprache, die slowenische, die deutsche, und über die Unterschiede zwischen denen, die so oder so sprechen und sich so oder so erinnern. Und einmal, in einer Wirtschaft kommt es beinah zu einer Schlägerei oder Schlimmerem, und das Mädchen, das schon in die Schule geht in der Stadt, fährt den unerhört aufgebrachten Vater mit dem Traktor nach Hause und singt Partisanenlieder auf dem Weg und singt aus Angst, dass sie zu singen aufhören könnte und den Vater nicht nach Hause bekommt. Es ist ein Buch über die Androhung zu sterben, über das jahrzehntelange stückweise Sterben derer, die die Marter überlebten.

“Er hat mich durch ein Meer geführt, in dem Überreste und Bruchstücke schwammen. Er hat meine Sätze auf dahintreibende Trümmer und Scherben prallen lassen, damit sie sich  verletzen, damit sie sich schärfen.”
Maja Haderlap über den Engel

Koordinaten: 46° 46′ N, 13° 49′ O, Maja Haderlap, Engel des Vergessens, Göttingen: Wallstein 2011

Begegnung
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