Polianders Zeitreisen

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Graue und blaue Stadt

28.05.2011 · poliander

Verschlickter Hafen in Husum

Verschlickter Hafen in Husum

Die Stadt, vom Hafen aus gesehen. Der Hafen von der Stadt her, bei Niedrigwasser, ein Schlammfeld. Mit der großen Flut kam die Küste  übers Meer nach Husum. Da wollte der Grund nicht  glauben, dass er nun Meeresgrund geworden. Nicht nass genug, der Hafen, sagen Hafenleute. Einmal soll das anders werden. Aber da streiten noch welche, dass ein Wunder gemacht wird und das Meer im Hafen bleibt.

Theodor Storm ist in Husum geboren. Endlose Stunden Erkältungskrankheiten, immer wieder von vorn: die in goldgrünes Leinen gebundenen Bändchen, Volksausgabe nannte man das,  das hieß “nicht wissenschaftlich” und hieß auch, so weil jeder Band nur 5 Mark kostete und ganz sicher der Worterklärungen wegen, die man dem Volk gern dazu gibt. Polianders Gefährtin, damals, war ein Lesevolk, fiebrig im Bett hielt sie ein Buch in der Hand oder eher unter der Nase, denn zum Halten war die Hand zu schwach, konkret auch zu klein, “handlich” sind die Bändchen für erwachsene Hände. Draußen schien die Sonne, im Buch schob sie sich in die Wolken und drüber und drunter: “Die meisten mögen wohl nach Westen blicken, um sich an dem lichten Grün der Marschen und darüberhin an der Silberflut des Meeres zu ergötzen, auf welcher das Schattenspiel der langgestreckten Insel schwimmt; meine Augen wenden unwillkürlich sich nach Norden, wo, kaum eine Meile fern, der graue spitze Kirchturm aus dem höher belegenen, aber öden Küstenlande aufsteigt; denn dort liegt eine von den Stätten meiner Jugend.” Silberflut, Schatten, nie gesehene Küste, so schuf der Erzähler der stets in sich verschachtelten und verrahmten Geschichten den Direktanschluss an Grimms Märchen, Polianders Freundin liebster Lektüre bis auf den heutigen Tag. Ein Fremder kam, Wetters oder sonstiger  Umstände wegen, an einen Ort, der vorerst nicht zu verlassen war, ein Aufenthalt tat not, Kaffee wurde gereicht, und dann überm Lesen vergessen, denn vor oder nach dem Kaffee oder dem Roten aus Lübeck tauchte ein Manuskript auf in des Fremden Erzählung, gerade recht, dem Aufenthalt einen Zweck und der Zeit Endlosigkeit zu geben. Polianders erkältete Freundin identifizierte sich gleich mit jedem lesenden Fremden, um sich anschließend und beizeiten auf die Seite des Helden zu schlagen, der aus der Tiefe von Schachteln gekommen war, in denen man die Manuskripte aufbewahrte. Der Held konnte  ein Mädchen sein, die tapfere Maren, die die Regentrude weckte. Maren konnte das. (Der Weg zur Trude ging durch den Stamm eines hohlen Baums, hinab, dort unten lag auch eine Landschaft, jetzt trocken, später von einem schönen Fluß durchschwemmt, so dass Maren, nachdem sie den Feuermann gelöscht, Kahn fahren konnte.) Polianders Freundin hatte keine Ahnung vom Meer.  Von trocknen Wiesen aber und hohlen Bäumen. Das Meer würde sie schon noch kennenlernen. Gingen die Geschichten auch gut aus, erzählten sie sich doch in einem Ton, der Kummer kennt. Sie gingen sowieso meistens schlimm aus, war wer im Meer versunken am Ende, in einem Tümpel zumindest, wie das Unglück es fügte, oder im Alleinsein, weil einer leichtsinnig versprochen hatte, nicht die Hexe zu heiraten, und dumm genug war, sich an das Versprechen zu halten. Die Leserin schlief ein, ließ aber das Buch nicht fallen. Storm musste man halten, der hatte ja den Wind schon im Namen, so wer konnte auch im Teppichboden untergehn, wenn man nicht achtgab.

Nähert man sich Husum mit der Bahn, sieht man den Hafen gleich, und gleich sieht man auch, ob Hoch- oder Niedrigwasser ist. Viel Schiffe sind da nicht, aber dunkelblaue und weiße Wolken, sie eilen, die Regenhusche kommt und geht, dicke, saftige Tropfen, und die Stadt ist grau und ziegelrot und trotz dem verschlickten Hafen ganz sauber.

Koordinaten: 54° 29′ N, 9° 3′ O

 

Ausgrabung
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