Polianders Zeitreisen

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Auf dem Hotelflur ist es still

31.12.2010 · poliander

Auch im neuen Jahr: sowohl als auch

Auch im neuen Jahr: sowohl als auch

Etwas schleicht vorbei. Eine huscht herum. Eine Tür hat schon geklappt, eine zweite klappt jetzt. Dame im Morgenrock späht aus der Tür, hängt das Schild auf den Türknauf: „Bitte nicht stören“, Dame schaut links und rechts: Nacktes tappt vorbei, Dame missbilligt, zieht den Kopf zurück, Schloss schnappt ein. Unterm fest geschlungnen Morgenrock wartet ein Likör im leeren Magen auf den nächsten. Die Dame leckt über blasse Lippen. Heut nacht kommt’s darauf an, nicht mehr Sorgen als Likör zu haben, doch auch nicht mehr Likör als Sorgen. Die Flasche ist noch lang nicht leer. Nacht der Nächte, Dame wühlt in Tasche, Nichtraucherin braucht Lektüre. Likörflasche und Gläschen kommen auf dem Nachttisch zu stehen, mit dem Buch in der Hand hüpft sie ins Bett, als warte da einer, rückt, das Buch auf den Knien, Beine und Rückseite zurecht, zieht die Decke unters Buch und greift das Schnapsglas.

Die nackten Füße sind den Gang draußen runter getappt. Die Tür zur Treppe trägt die Aufschrift „Nicht arretieren!“ Sie ist mit einem Keil ist festgeklemmt. Dann die Faltungen der Aufzugschiebetür, gleich daneben die erste Stufe. Roter Hoteltreppensamtläufer, leicht verfleckt. Neben dem Aufzug hockt einer und raucht. Füße  bleiben stehn:
Haben Sie Feuer?
Sicher doch, Mädchen.
Danke. (Dick wird die Glut, glutrot.)
Is dir nich kalt, Kleene, so barfuß?
Nee. (Sie mustert den Alten.)
Hat er dir versetzt? (Sie zuckt die Schultern.)
(Unten krachen Böller.) Könnt langsam uffhörn, was?
(Sie nickt.)
Die denken ooch, das neue soll’s bringen. Ich sage dir was. (Er lehnt sich ans Geländer, sie setzt sich auf die Treppe.) Mit Poesie alleene is dir nicht geholfen.

Das Mädchen zündet sich die nächste Zigarette aus ihrer Schachtel an. Sie zieht die bleichen Zehen nach oben. Aber davon wird uns auch nicht wärmer. Schimmern die Füße nicht schon bläulich? Der Alte geht langsam den Flur hinunter. Vor der Tür mit dem Schild „Bitte nicht stören“ bleibt er stehen, hebt die Hand und krümmt die Finger, richtet den Knöchel in Richtung Klopfen. Dann lässt er die Hand sinken und geht weiter. Er hat hier nichts mehr zu schaffen. Das junge Jahr hat schon viereinhalb Stunden. Das Mädchen an der Treppe vorn wirft den Zigarettenstummel in den Ascher, streckt sich, steht. Plötzlich geht sie, geht sie einen Schritt schneller, rennt zuletzt, schnappt die Zimmertür auf, wirft ihre Sachen in den Koffer, schnappt den zu, die Zahnbürste fällt ihr ein, Zähneputzen fällt aus, eine Laufmasche fällt das Bein hinunter, das gleich in den Schnürstiefel schlüpft. Fliegenbeindünne Wimpern werden streichholzdick, den schwarzen Lack auf den Nägeln auszubessern, bleibt keine Zeit, wohl aber für die Träne unterm Aug. Kettenlast sinkt um den Hals. Schnappt sich den Koffer, die Junge, klappt durch die Tür, steppt übern Gang, pfeift aufn Aufzug, rennt sie runter, die Treppe, dreht von Absatz zu Absatz. Unten schwingt die Tür zurück ins Schloss, da springt sie schon am Ende der Straße in die Tram. Ein neues Jahr ist kein Baby, Baby!, es ist eine tätowierte Jugendliche mit melancholischer Frisur, und wenn’s erst mal losrennt, sei fix, dann kriegst du’s vielleicht ein.

Koordinaten:
Dank allen, die Poliander 2010 begleitet haben.
Wünschen: Gute Reise mit leichtem Gepäck, unbeirrte Ankunft im neuen Jahr!

Reisebrief
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