Polianders Zeitreisen

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Loibls Buchstabenkunst 3

15.12.2010 · poliander

Ruth Loibl, Mittagessen, Detail mit Stuhl, Tisch, Schrift

Ruth Loibl, Mittagessen, Detail mit Stuhl, Tisch, Schrift

Mit Maria und Josef sei sie bei der Arbeit an der Krippendarstellung nicht glücklich geworden, sagt Loibl mir bei unserem Wiedersehen im Atelier. Erst als sie sich auf die Geburt konzentriert habe, die doch eigentlich Menschwerdung bedeute, hätten sich Text und Bild geformt. Sie selbst habe diese Menschwerdung mehrmals erlebt. Ihre Kinder. Ein leerstehender Laden zwischen Innsbrucker Platz und Hochschule der Künste. Vor 20 Jahren fuhr die Studentin Loibl als mit dem Fahrrad vorbei. Der Laden wurde ein Ort, an dem sich die eigene Erfahrung von Menschwerdung mit der Menschwerdung Gottes verband, Jahre später ein Schauplatz in ihrer Grafik. Die Bildhauerin und Buchdruckerin, geboren 1959 in Nürnberg, lebt in Rheinfelden bei Basel. Dorthin führte sie eine private, nicht berufliche Entscheidung. Am 9. November 1989 nahm sie mit ihrer Tochter den Nachtzug Berlin-Basel. Ein Fahrgast, der gegen Morgen in Freiburg zustieg, erzählte ihnen, dass in Berlin die Mauer gefallen sei. In Südbaden war das eine Nachricht, kein Geschichtsbruch, der sie selbst betraf: “Als ich nach Rheinfelden kam, gab es da nur Chemiker und alemannische Hausfrauen.” Aber Rheinfelden hat eine Gemeinsamkeit mit dem geteilten Berlin: es existiert zweimal. Ein Rheinfelden liegt diesseits, eines jenseits der deutsch-schweizer Grenze.

Andere Künstler, erzählt sie, hätten sich nach der Ausbildung umstandsloser als sie selbst in den Beruf integriert. Sie habe beobachtet, dass “ihnen das Leben abhanden kommt.” Dieses Leben, mit dem sie “soziale Einbindung, Nahrungsbeschaffung, Familie, Freunde” meint, ist in Loibls Arbeit sehr präsent. Mit Naturalismus hat das nichts zu tun, kaum mit Realismus. Loibl legt biographische Spuren, so in Zeichnungen, die den Grundriss der Familienwohnung überlagern. Der Blick wandert in den Raum hinein und erfasst nacheinander die Schuhe an der Wand, den Kücheneingang, den Tisch, Stühle, nicht in “realistischer” Perspektive. Sondern das Auge nähert sich wie bei einer Kamerafahrt den einzelnen Dingen nacheinander, zoomt sie heran, andere bleiben fern. Diese erzählerische Haltung findet sich auch in Objekten, wie in den “Kämmen”, gesägten Objekten aus Holzkloben, in denen ein Einschnitt dicht neben den anderen gesetzt ist. Sie entstanden bei gleichzeitiger Betreuung eines Kleinkindes, die zu vielen Arbeitsunterbrechungen führte. “Später hab ich einfach weitergesägt.” Störungen sind ein Geschenk, sagt sie, weil sie Situationen verschieben. Die biographische Struktur bedeutet Verständigung: “Das heißt nicht, dass ich dauernd aus meinem Leben erzähle. Ich mache das, um Antwort zu bekommen. Dass von anderen etwas kommt, was nicht von mir kommen kann.” Sie will, sagt sie, mit Fremdheit umgehen, anstatt sie zu umgehen. Mit einem Projekt in der Stadt Rheinfelden stehen, bei dem sie gemeinsam mit dem Künstler Tobias Eder einen imaginären Centralpark Rheinfelden anregte, Centralpark wie Central Park. Leute aus dem deutschen und dem Schweizer Rheinfelden pachteten für 25 Euro eine Parzelle und gestalteten sie nach ihren Vorstellungen. Die Arbeit erzählte, was in der kleinen Industriestadt fehlt. So kam die Stadt zu Loibl. Auch anders: Als Lehrerin an der Rheinfeldener Volkshochschule zeigt sie Jugendlichen, darunter Jugendliche aus einem Asylbewerberheim, in ihrer Werkstatt, wie sie selbst einen Text setzen und drucken können. Das Drucken ist auch so etwas, das durch Zufall zu ihr kam, als sie vor mehr als zehn Jahren die Möglickeit hatte, eine alte Druckerpresse zu übernehmen, vollständig mit allen Lettern.

(Fortsetzung folgt)

Koordinaten: Rheinfelden, Berlin, Laden, Park, Fahrrad, Zug

Begegnung
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