Der Innsbrucker Platz in Berlin ist ein leerer Ort, eine Kreuzung, nach der zwei Bahnhöfe und mehrere Haltestellen benannt sind. Wer nachts über den Innsbrucker Platz kommt, fühlt stärker die Leere des Weltraums als die Fülle des Sternenhimmels.
Als man bei der Erzdiözese Freiburg 2009 zeitgenössische Krippendarstellungen suchte, reichte Ruth Loibl eine graphische Arbeit mit dem Titel „Innsbrucker Platz“ ein: sechs Spalten Gedrucktes, die Zeichnung zeigt eine Zimmerecke, die sich nach zwei Seiten öffnet, kariertes Bettzeug, unter dem man einen Fuß ahnt, altmodisch gemustertes Linoleum, das Dahinter verstellt von Wänden. Die Zeichnung kann ohne den Text nicht sein, in dem Leute reden, über den Laden, der so lange leer stand, der eine Geschichte hat, der jetzt hell erleuchtet ist, in dem eine Frau lebt mit einem Kind, die lacht und telefoniert. Es könnte auch anders sein, sagt das Reden. Das Reden wiederholt auch, was in Medien berichtet wurde: „Andere wie sie, die sperren sich in der Toilette ein und plötzlich ist ein Kind da. Keiner will etwas gemerkt haben, niemand, ein Kind aus dem Nichts. Nein, aus ihrem Bauch. Gott weiß, wie es hinein gekommen ist.“ Ein nahezu leerer Raum, Gerede über Frauen, die ihre Kinder töten: Kann das eine Weihnachtskrippe sein? Einen Preis hat Loibl mit ihrer leisen, sturen Provokation nicht gewonnen. Jede kann sich selbst fragen, ob sie das wundert.
Im Frühling 2010 zeigt Loibl im Kloster Hegne am Bodensee die Ausstellung „vom lachen und vom vergessen“. Es stürmt am 28. Februar, dem Tag der Eröffnung, die Wellen tragen Kämme. Das Kloster wirkt, dem starken Wind ausgesetzt, exponiert. Später am Tag bricht in Teilen Baden-Württembergs der Bahnverkehr zusammen. Zwei katholische Schwestern kommen aus Richtung des Klosters auf mich zu, und ihre Silhouette im Gegenlicht gleicht dem Umriss von zwei älteren türkischen Frauen, die sich in ihren langen Mänteln und großen Kopftüchern zueinander beugen und unterhalten. Dies weckt ein vertrautes Gefühl, als ginge ich über die Hauptstraße in Berlin-Schöneberg. Vor dem Kloster überquere ich eine ziemlich befahrene Straße; von der aufgeweichten Grasnarbe diesseits rette ich mich hinüber zum Klosterfriedhof. Das Tor des Gottesackers ist verschlossen. Ich umgehe ihn und finde das eigentliche, moderne Klostergebäude und Tagungshaus oberhalb zugiger Parkplätze. Als ich auf dem Vorplatz ankomme, bricht für einen Augenblick die Sonne durch. Kontakt zum Mobilfunknetz gibt es nicht. Am Empfang sagt eine blonde Frau, die Ausstellung sei doch „hier, überall“. Und hier ist auch der „Innsbrucker Platz“, gezeichnet, gedruckt. Die Schwestern im Kloster scheinen, als sie später die Bilder ansehen, mehr getroffen als provoziert.
(Fortsetzung folgt)
Koordinaten: 52° 33′ N, 13° 22′ O und 47° 43′ N, 9° 4′ O