Polianders Zeitreisen

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Loibls Buchstabenkunst 4

19.12.2010 · poliander

Ruth Loibl, Buchbinderleinen, Detail

Ruth Loibl, Buchbinderleinen, Detail

Wer eine Krippe zeichnet. Wenn eine diese Krippe zeichnet, auch wenn die Krippe dann  eine Ladenwohnung ist, in der die Frau lebt und das Kind, wenn eine diese Krippe zeichnet, wie fern von Stall, Stern, Halleluja auch immer, setzt sie sich in Beziehung zu diesem Gottkind und seinem christlichen Vater. Der Ort ist Berlin, Innsbrucker Platz, und hinter Laden, Telefon, Zimmerecken erstreckt sich (sichtbar für das innere Auge der Betrachterin) der ganze Zinnober von Esel und Engel, schmalen Fingern, die eine Krone halten, einer Ankündigung, einer Lilie, aus der der Stempel entfernt wurde. Warum Gott?In ihrer grafischen Serie “raum gottes” zerlegt Loibl dann Gottes Raum in drei Schichten: das Wort in Gestalt von Textauszügen aus Alexander von Humboldts “Kosmos”, das Bild in Form von Federstrichen und die Unterbrechung, nämlich durch Schnitte im Papier. Aus diesen Schnitten entstehen neue Worte, auf jedem Bild des Zyklus eines. “Merkwürdigerweise zeichnet sich das Wort ‘staub’ wenig ab, es löst sich auf.” Das Material bewirkt, dass die Buchstaben sich in den Schnitten mehr oder minder gut abzeichnen. Loibl akzeptiert das: “Es ist gut, wenn noch jemand mitarbeitet.” Wer ist das, “jemand”? Der Zufall? Gott? Loibls Federstriche suggerieren wie in “Innsbrucker Platz” Räume. Immer sind es Innenräume, nie sind Menschen zu sehen. Sie sagt: “Der Raum Gottes ist für mich ein Innenraum, weil der Glaube von Menschen gemacht ist.” Und der Weltenraum? “Der kommt durch den Kosmos-Text.” Zwischen Mittel- und Hintergrund entstehen Raumecken. Das erinnert weniger an konkrete Zimmer als an Ecken von Räumen, die weitere Räume verdecken und sich in eine unsichtbare Tiefe hinein fortsetzen. “Vielleicht ist dahinter jemand, vielleicht reden da zwei.” Je mehr sie sich zurücknähme, desto mehr Platz entstehe um sie herum. Sie spricht davon, dass Leben “wirkt, das wir nicht bestimmen.” Ruth Loibl wuchs in einem Handwerksbetrieb auf, in einer Großfamilie. Wer auf der Treppe des Hauses ging, war am Schritt zu erkennen. Das war eine körperliche Erfahrung, etwas zu hören, zu fühlen, das man nicht sah. So fühlte sie damals auch den Zopf, den sie hinter dem eigenen Kopf flocht und der jetzt in einer ihrer Zeichnungen wiederkehrt. Aus der Zopfstruktur ergeben sich Linien. Der Text, der unter diesen Linien liegt, ist der Lebenslauf. Heute trägt sie das Haar kurz. Der Zopf und sein Muster sind in ihren Fingern geblieben. “Wir haben viele solche Muster in unserem Körper”, sagt sie. Das ist ein strenger Gedanke. Der Briefauszug Jacob Grimms, den Loibl druckte, enthält die Passage: “Wir kommen hier auf die Treue. Eine mathematische ist vollends unmöglich und selbst in der wahrsten, strengsten Geschichte nicht vorhanden; allein das thut nichts, denn daß Treue etwas wahres ist, kein Schein, das fühlen wir und darum steht ihr auch eine Untreue wirklich entgegen.” Wege und Umwege führen in jedem Raum, hinter dem ein anderer Raum ist.

(Schluss)

Koordinaten: Ruth Loibl.
Persönlicher Bezug: Weltraum.
Sehen: Poliander sah 2010 Gerhard Richters Fenster im Kölner Dom, dazu gefunden in einem Glasblog.
Hören: Poliander möchte 2011 John Cage in Halberstadt hören, 2/ASLSP (as slow as possible).

Begegnung
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