Polianders Zeitreisen

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23.12.2009 · poliander

Alter Westhafen

Alter Westhafen

Fragt mich das alte Westberlin: “Gehn wir mal in die Badensche?”, ja, gehn wir hin. Die Badensche Straße liegt dunkel, die Fenster haben die Jalousie übers Gesicht gezogen, die hängt noch so vom Sommer, oder hängt die immer so, ja die hängt immer so. “Ihr seht aus, als wär draußen Winter”, ruft der Wirt.Es ist warm, innen, es ist Freitag, als wir das letzte Mal hier waren, war es voll, nicht, dass wer denkt, das wär in den Achtzigern gewesen, oder doch, sicher bin ich nicht, es wäre, zum Beispiel, der 15. Juli 89, dagegen spricht das Wetter und dass es dunkel ist draußen, und nicht, dass ich wüsste, wer am 15. Juli 89 hier gespielt hat oder welcher Wochentag das war, es ist ein Beispiel. Es könnte auch der 27. November 1988 sein. Dafür spricht der mit dem mickrigen Zopf, der jetzt hinter die Bühne rennt, wieder vorkommt, wieder hinter rennt. Später wird er mit anfassen, wenn die Pianistin das Klavier entkleidet. Nicht dass er hier angestellt wäre, er sitzt an der Bar, oder doch, man weiß nie. “Da saß er auch letztes Mal, als diese Sängerin”, sagt Westberlin zu mir, “bitte erinnere dich doch mal, genau, du hattest dieses Hemd an, zu aufgeknöpft, wenn du mich fragst”, das kann nicht sein, sage ich, aber ich erinnere mich genau. Da mussten wir schon rausgehen zum Rauchen.  Undenkbar in den echten Achtzigern, ich gebe es zu. Ich habe den ersten Wein getrunken, im alten Westberlin trank man Bier und Wein und niemals Schorle. Ich also, ja, Wein, ja, getrunken, als sie kommt. Sie ist wie damals, das Kleid, von dem sie die Jacke abzieht, rückenfrei und schwarz, an den Nähten schon etwas grau, genau zu sein. Sagte ich, dass wir sitzen, in dem Raum, wo das Podium steht? Wirst du alt? “Nee”, sagt er, ganz altes Westberlin, “du bist das doch, die immer ganz  genau sehen will.” Das stimmt. Aber ich würde trotzdem lieber bei der Bar stehn, den Typen mit dem Mickerzopf im Rücken und zwei drei andre im Blickfeld, uneindeutige Botschaften tauschen, nur so, sag ich mal, keine Sorge. Jetzt kommt auch sie, braune Haare, braunes Kleid, ist jetzt aber ein Stilbruch, so ein Koller mit roten Blumen drauf, sind wir denn in den Sechzigern? Dafür ist sie auch zu jung, spielt Saxophon, ist eine Überraschung. Die Pianistin nicht. Sie spielt wie immer, sogar wie im Haus der Jungen Talente, das war im alten Ostberlin, das nicht alt wurde, aber sein Gesicht trotzdem verlor. Sie, die Klavier spielt, hat ihr Gesicht noch, greller jetzt, das kommt von Westberlin, einer trüben Droge, wenn man mich fragt, ich bin auch drauf. Sie spielt genau wie immer, ich weiß jetzt schon, was kommt, es ist kalt und heiß wie immer, gefällt nicht allen, Ornette Colemann, das steckt dahinter, manchmal huscht ein Melodiestreif durch wie ein Erkennen, nur ich erkenne vor allem sie, die sich verliert, “perdido”, das haben sie damals bei Amiga verkauft, das nur am Rande, sage ich zum alten Westberlin, Luftballons flogen über die Plattenhülle, es war der Montagstermin, aber früher 87 oder sogar 86, wer weiß, sie war größer damals, der Rücken frei, sie war kalt und glitzerte, wenn sie lachte, sie wohnte in Westberlin. Jetzt nimmt sie Aluminiumfolie aus einer Tüte und klemmt sie zwischen die Saiten. Ein Begeisterter beim Piano ist halb so alt, klatscht doppelt so heftig, muss hier eingeflogen sein, man ist nicht mehr kühl und melancholisch, nur ich. Rechts sitzt ein Mann und schreibt und schreibt, er schreibt nicht von der Musik ab, sondern aus seinem Kopf, was der wohl hört. Und ich trinke und trinke mit Westberlin und sehe den Rücken der Pianistin, dann ist das Saxophon still (ja, es ist schön, das Saxophon), die Pianistin greift mit einer Hand über die andere, hört sich zu, weiß, was sie tut, haut mit dem Ellenbogen auf die Tasten, so war, ist es, wird es sein. Später dann und dazwischen, die Überraschung, die Klarinette. Von jetzt, wenn Sie wissen, was jetzt ist.

Koordinaten: Jazzklub. Sehr alt. Aki Takase (p),  Silke Eberhart (sax).

Ohrenschmaus
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